Wer ist der alte, hagere Mann, der uns im Kibbutz südlich von Tel Aviv mit «Shalom» in wienerischem Akzent begüsst, auf dem Kopf eine schwarze Kippa trägt, aber mit einer Hakenkreuzbinde um den Arm süffisant das «Horst-Wessel-Lied» intoniert?
Chaim Miller, der vor 92 Jahren im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring als Alfred Müller geboren wurde, ist eine zugleich stille wie schillernde Figur. Er steht für ein Kapitel lange verschwiegener Zeitgeschichte – und ist heute der wohl letzte lebende «Inglourious Basterd», die streng geheimen Gruppe jüdischer Soldaten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Selbstjustiz Nazis töteten – als Rache für die Shoah, den Holocaust.
Emigration nach Palästina
Alfred Müller wächst im «roten Wien» auf. Dass er Jude ist, hat für ihn keinerlei Bedeutung. Doch mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten beschliesst er, nach Palästina zu emigrieren. Dafür bricht er die Schule ab und macht die Lehre zum Schlosser.
Als er nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland beim Treffen mit anderen zionistischen Jugendlichen, die sich gemeinsam auf die Emigration vorbereiten, von einem Hitlerjugend-Trupp überfallen und blutig geschlagen wird, packt er seine Sachen. Im Februar 1939 verabschiedet sich der 17-Jährige von seinen Eltern: «Danach habe ich sie nie mehr wieder gesehen».
Aus Müller wird Miller
Am 15. März 1939 landet Alfred Müller illegal in Palästina, wo er mit Jugendlichen aus Österreich und Deutschland den Kibbutz Kfar Menachem aufbaut. Er lernt Hebräisch und nimmt den Namen Chaim Miller an.
In Wien wird sein Vater indes von der Gestapo zur Zwangsarbeit verschleppt, an deren Folgen er 1941 stirbt. Seine Mutter wird im selben Jahr nach Riga deportiert und in einem Wald erschossen.
Einsatztruppe für Sabotageakte
In der Zwischenzeit ist der Krieg auch in Palästina angekommen: Generalfeldmarschall Rommel steht in Ägypten und rückt in Richtung Palästina vor. Chaim Miller tritt in die jüdische Untergrundarmee Haganah ein, ein streng geheimes Kommando-Unternehmen. Das Ziel: Einige Dutzend Juden aus Österreich und Deutschland sollen hinter den deutschen Linien Sabotageakte ausführen – und müssen dafür als «echte Nazis» ausgebildet werden.
Chaim Miller meldet sich sofort zur Ausbildung als Special Agent. «Wir haben nur Deutsch gesprochen, hatten deutsche Uniformen, deutsche Waffen und haben alles gelernt, was ein deutscher Soldat lernen muss.» Dazu zählt auch das Liedgut der Nazis, das Chaim Miller bis heute gespeichert hat. Zum Sabotageakt gegen Rommels «Panzertruppe Afrika» kommt es jedoch nicht, im Oktober 1942 wehren die Alliierten die deutschen Truppen ab.
Marschbefehl nach Kriegsende
Die Haganah reicht ihre Spezialeinheit deshalb an die «Jüdische Brigade» der Briten weiter. Als Millers Einheit im Mai 1945 in Italien landet, ist der Krieg in Europa gerade zu Ende. Sie wird in Camporosso bei Tarvis stationiert. Chaim Miller, er ist jetzt 24 Jahre alt, muss erkennen, dass auch seine Familie in der Shoah ausgelöscht wurde.
Die Mitglieder der «Deutschen Abteilung» beschliessen gemeinsam, Rache zu üben. Von jugoslawischen Partisanen erhalten sie Listen mit den Adressen hochrangiger SS-Männer und Gestapo-Beamter – insgesamt 700 Täternamen. Die geheime Aktion «Nakam» – das hebräische Wort für Rache – beginnt.
«Wir haben nicht genug gemacht»
In den nächsten Wochen fahren die «Inglourious Basterds» jeden Abend über die Grenze nach Österreich und klopfen bei NS-Schergen an. «Wir haben uns als britische Soldaten ausgegeben und sie zum Verhör eingeladen.» Sobald die Männer auf den Lastwagen steigen, werden sie gefesselt und zugedeckt zurück über die Grenze nach Italien gebracht. Dort werden sie in einen Wald bei Malborghetto geführt, wo die jüdischen Soldaten «Gericht» halten.
Nach dem Verhör werden die in Selbstjustiz Verurteilten vor die Hütte geführt, angewiesen, ihr eigenes Grab zu schaufeln, und erschossen. Wie viele Nazis auf diese Weise ermordet wurden, ist bis heute unbekannt. Die Schätzungen reichen von einigen Dutzend bis zu Hunderten Opfern.
Was Chaim Miller dabei gefühlt hat, Rache für den Holocaust zu nehmen? «Was ich damals gefühlt habe? Dass wir nicht genug gemacht haben!»