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Ein Mann mit Bart und Brille mit halb geöffnetem Mund.
Legende: Schweizer in Den Haag: Richter Stefan Trechsel (rechts). Keystone

Gesellschaft & Religion Stefan Trechsel: Richter am Jugoslawien-Tribunal in Den Haag

Als erster und einziger Schweizer Richter hat Stefan Trechsel am Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag erlebt, wie die Mühlen dieses Gerichts mahlen. Wie viele andere Experten macht auch er sich Sorgen um die Glaubwürdigkeit der Uno-Institution.

Der Prozess gegen die Führungsriege der bosnischen Kroaten war für das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag in jeder Hinsicht ein Verfahren der Superlative: Während den 465 Verhandlungstagen wurden mehr als 200 Zeuginnen und Zeugen aufgerufen und nahezu 9000 Dokumente präsentiert.

«Ich habe mir ständig Notizen gemacht», sagt Stefan Trechsel. Der Schweizer Richter sass in den letzten sechs Jahren – so lange dauerte dieser Monsterprozess – zusammen mit einem Franzosen und einem Ungaren auf der Richterbank, vor der sich die Angeschuldigten verantworten mussten.

Urteil in sechs Bänden

Stefan Trechsel

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Der 76-jährige Trechsel war von 1979 bis 2004 Professor für Straf- und Prozessrecht in St. Gallen und Zürich. Von 1975 bis 1999 war er Mitglied der Europäischen Menschenrechtskommission, die er zwischen 1995 und 1999 präsidierte. 2005 wurde er zum Richter am Jugoslawien-Tribunal in Den Haag gewählt, das Mandat lief Ende Mai 2013 ab.

Im letzten Mai verfügten der Schweizer Richter und seine beiden Kollegen hohe Haftstrafen gegen die bosnischen Kroaten. Laut Urteil bildeten diese eine kriminelle Organisation deren Ziel es war, die muslimische Bevölkerung aus Mostar und anderen Orten in Herceg-Bosna, jenem autonomen kroatischen Teilstaat innerhalb von Bosnien-Herzegowina, zu vertreiben. Obwohl sie von den Verbrechen – Mord, Vergewaltigung, Plünderung – gewusst hätten, habe keiner der Kommandeure eingegriffen, kam das Richtergremium zum Schluss.

Das wörtliche Protokoll des gesamten Prozesses umfasst mehr als 52'000 A4-Seiten. Er habe diese Seiten nicht (nochmals) durchgelesen, erzählt Stefan Trechsel. Vielmehr habe er sich für die Urteilsfindung an seine 18 grossformatigen, 1 Zentimenter dicken Notizbücher gehalten, die er im Verlauf des Verfahrens vollgeschrieben habe. Diese hätten ihm die Arbeit sehr erleichtert. Das gesamte Urteil, das Trechsel mit den beiden anderen Richtern fällte, umfasst sechs Bände mit insgesamt 2600 Seiten.

Umstrittener Freispruch zweier Generäle

Dieses Verdikt erregte Ende Mai viel Aufsehen. Denn damit wurde einmal mehr deutlich, dass die Verantwortung für die Balkankriege in den 1990er-Jahren nicht nur bei den Serben, sondern auch bei den Kroaten liegt. Das war brisant: Zwei kroatische Generäle, die in erster Instanz hohe Haftstrafen kassiert hatten, waren letztes Jahr in einem höchst umstrittenen Urteil der Berufungskammer freigesprochen worden waren.

Theodor Meron
Legende: Hat er politischem Druck nachgegeben? Der Präsident des Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien, Theodor Meron. Reuters

Nun befürchten Fachleute, dieselbe Berufungsinstanz könnte dereinst auch die Führungsriege der bosnischen Kroaten von den ihnen auferlegten Haftstrafen befreien. Ob «sein» Urteil gegen die sechs Männer standhalten wird, weiss Stefan Trechsel nicht: «Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt», sagt er.

Parteiischer Tribunal-Präsident?

Aber der Schweizer Strafrechtsexperte macht sich Sorgen, weil die bisher hohe Glaubwürdigkeit des Tribunals auch durch andere problematische Freisprüche zunehmend unter Druck gerät. In einem Brief hatte einer seiner Richter-Kollegen vor wenigen Tagen die Befürchtung geäussert, wonach der US-Amerikaner Theodor Meron, der im Fall der kroatischen Generäle die Berufungskammer präsidierte, politischem Druck nachgegeben hätte. In mehreren Wikileaks-Depeschen wird diese Vermutung laut der Agentur Sense bestätigt.

Demnach rapportierte der 83-jährige Meron eifrig nach Washington, was sich am Tribunal in Den Haag hinter den Kulissen abspielte. Er habe sich dabei als ein feuriger Unterstützer der USA aufgestellt, kamen die Wiki-Leaks-Untersucher zum Schluss.

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