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Gesellschaft & Religion «Surprise»-Verkäufer: arm an Geld, reich an Lebenserfahrung

Vom Sehen kennt sie jeder: die Verkäuferinnen und Verkäufer des Strassenmagazins «Surprise». Aber wer weiss schon, welche Geschichten sie erlebt haben? Das Buch «Standort Strasse» porträtiert 20 Mitarbeitende und zeigt, warum sich ein Stopp bei ihnen lohnt.

Für einmal stehen die Menschen hinter dem «Surprise»-Magazin im Fokus: die Verkäuferinnen und Verkäufer, die Tag für Tag auf der Strasse stehen. 20 von ihnen stellt das Buch «Standort Strasse» vor. Die Porträts – aufgezeichnet von Olivier Joliat, fotografiert von Matthias Willi – werden ergänzt durch Gastkommentare von Sympathisanten wie Rapper Knackeboul oder Journalist Daniel Binswanger.

«Surprise» in Zahlen

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  • 350 Strassenverkäuferinnen und -verkäufer
  • Erscheint alle 2 Wochen in über 100 Deutschschweizer Städten
  • Die Inhalte produziert eine 4-köpfige, professionelle Redaktion
  • Auflage: 19'000 Exemplare
  • Vor 18 Jahren gegründet

Das Buch erzählt von Menschen, die oft keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Sei es, weil sie keine Ausbildung haben, IV beziehen oder als Flüchtlinge in der Schweiz leben. Oder weil sie eines Tages mit dem Tempo der Leistungsgesellschaft nicht mehr mithalten konnten oder wollten.

Strassenchor und Fussballverein

Neben dem Magazinverkauf hält der Verein «Surprise» weitere Angebote für Langzeitarbeitslose parat. Es gibt etwa einen Strassenchor und einen Fussballverein, der regelmässig Strassenfussballturniere organisiert.

«Wir erfüllen für die einzelnen Personen ganz unterschiedliche Funktionen – für die einen sind wir einfach eine Möglichkeit, Geld zu verdienen; für andere sind die Mitarbeiter und Mitglieder eine Art Familie; wieder andere können sich bei uns körperlich austoben oder anderen Leidenschaften nachgehen», sagt Paola Gallo, Geschäftsleiterin des Vereins «Surprise».

Zum Zürcher Stadtoriginal mutiert

Zum Fussballteam gehört etwa Ruedi Kälin. Der gebürtige Bündner kann man mittlerweile als Zürcher Stadtoriginal bezeichnen. Denn der bärtige 57-Jährige mit der zotteligen Haarpracht und der Mütze auf dem Kopf verkauft das Heft seit 15 Jahren und ist mittlerweile stadtbekannt.

Beiträge zum Thema

Neben dem Verkauf führt er seit einem Jahr auch den von «Surprise» initiierten «sozialen Stadtrundgang» durch. Dabei zeigt er seine Lieblingsplätze in Zürich: in welchem Park man am schönsten draussen schläft oder welche Bänkli um welche Zeit besonders lauschig sind.

Das Geschäft sei härter geworden in den letzten Jahren, sagt er. Die Leute überlegten sich zweimal, für was sie ihr Geld ausgeben würden. Trotzdem könnten er und die anderen Verkäufer auf eine treue Stammkundschaft zählen, viele Käuferinnen und Käufer kauften das Magazin stets bei «ihrem» «Surprise»-Verkäufer.

Steigende Verkaufszahlen

Der Verkauf mag in der Wahrnehmung der Verkaufenden schwieriger geworden sein, faktisch gesehen aber geht es dem Magazin besser denn je, auch wenn das Unternehmen politischen Schwankungen ausgesetzt ist. «Wir waren im letzten Jahr eines der wenigen Printmedien, die steigende Verkaufszahlen vorweisen konnten», sagt Paola Gallo stolz.

Denn es gab auch schwierige Zeiten, verschiedene Gesetzesänderungen machten dem Verein «Surprise» in den letzten Jahren das Leben schwer. So wurde etwa 2008 die Integration von Ausländern und Asylanten den Kantonen übertragen, worauf gewissen Verkäufern mit F- und N-Aufenthaltsbewilligung die Verkaufserlaubis kurzfristig entzogen wurde. Die Verkäufe brachen ein. Mittlerweile habe sich aber auch das wieder eingependelt, sagt Gallo.

Durch «Surprise» ein selbstbestimmtes Leben führen

Durch die Lektüre des Buches und im Gespräch mit Verkaufenden wird klar: Das Magazin «Surprise» spielt eine wichtige Rolle im Leben der Verkäuferinnen und Verkäufern. Es gibt ihnen eine gewisse Autonomie, reicht ihnen die Hand zu einem freien, selbstbestimmten Leben.

Der Verkauf gibt ihnen einen Grund morgens aufzustehen, strukturiert ihren Tag, finanziert ihr Leben und ermöglicht ihnen den Kontakt zu Menschen – zu jenen im Verein, aber auch zu den Passanten auf der Strasse, die auch dann anhalten, wenn sie dafür ein paar Minuten aufs nächste Tram warten müssen.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 09.10.2015, 08:20 Uhr.

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