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Radiostudio: Hinter einer Scheibe sitzen Radiojournalisten
Legende: Die Idee von Radio loco-motivo (von spanisch «loco», also «verrückt») stammt aus Lateinamerika. (Symbolbild) Getty Images

Gesellschaft & Religion Therapie: Verrücktes Radio machen

Bei Radio loco-motivo bekommen Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung eine Stimme im Äther und in der Gesellschaft. Warum sich das positiv auswirkt, beschreiben Reinhart Meister von der Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Bern und Liselotte Tännler von der Radioschule klipp+klang im Interview.

Reinhart Meister

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Reinhart Meister ist Leiter des Bereichs Wohnen und Freizeit der Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Bern und ist mitverantwortlich für die Redaktion von Radio loco-motivo Bern.

SRF: Inwiefern wirkt sich Radiomachen positiv aus?

Reinhart Meister: Durch die Mitarbeit bei Radio loco-motivo können psychiatrieerfahrene Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Sie können eine Radiosendung selbst gestalten – das ermöglicht ihnen, an ihrer eigenen Gesundung zu arbeiten, aber auch ein Sprachrohr für die Anliegen psychiatrieerfahrener Menschen zu sein. Sie können vorbildhaft einen wichtigen Teil zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für psychiatrische Themen beitragen. Sie erhalten viel Vertrauen und erfahren viel Wertschätzung für den Mut, mit dem Sie sich an Neues heranwagen.

Was trägt besonders zur Gesundung bei?

Reinhart Meister: Am wesentlichsten ist mir aufgefallen, dass mit dem Mikrofon in der Hand der Fokus weg von sich selber und hin zum Gegenüber und der Aussenwelt gerichtet wird. Das finde ich ausserordentlich «gesund». So werden die Teilnehmer zu interessierten Menschen, die aktiv an ihrer Umgebung partizipieren. Sie durchbrechen ihr Rückzugverhalten, das in Krisensituationen zwar kurzfristig einen Schutz vor Überforderungen bieten mag, längerfristig aber zu sozialer Isolation führt und sich erfahrungsgemäss negativ auf die Gesundheit auswirkt. Durch Projekte wie Radio loco-motivo begegnet man Menschen mit Psychiatrieerfahrung heutzutage mehr auf Augenhöhe und nimmt ihre Meinung und ihre Erfahrung im Allgemeinen ernster als früher.

Liselotte Tännler

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Liselotte Tännler leitet die Radioschule klipp+klang, die neben dem Projekt Radio loco-motivo auch Radiokurse und Jugendprojekte durchführt.

Frau Tännler, welche Art von Ausbildung und Trainings bietet die Radioschule klipp+klang den Redaktionsmitgliedern von Radio loco-motivo an?

Liselotte Tännler: Radio loco-motivo ist für unsere Schule ein Projekt im Bereich «Empowerment». Es geht in diesen Ausbildungs-Projekten darum, dass sich Menschen mit einem erschwerten Zugang zur Öffentlichkeit über die Radioarbeit den Raum für ihre Themen nehmen. Die Inhalte der radiojournalistischen Grundausbildung für diese Redaktionsgruppen unterscheiden sich nicht von denen des Grundkurses Radiojournalismus, den die Radioschule klipp+klang sonst anbietet.

Was lernen die Teilnehmer in diesen Kursen?

Liselotte Tännler: Aufnahme-, Editier- und Interview-Technik, Recherche, Umgang mit dem Internet, Schreiben fürs Radio, Beitragsgestaltung, redaktionelle Planung – halt alles, was es für gelungene Radiosendungen braucht. Aber auch teamstärkende Elemente wie kollegiales Feedback. Das Besondere bei der Planung der Ausbildung für die Redaktion von Radio loco-motivo Bern war, dass wir die Inhalte und die Dauer der Ausbildungseinheiten über den Zeitraum von mehr als zwei Jahren verteilen und viele Inhalte vertiefen konnten. Es war genug Zeit, alle mit ins Boot zu holen und den Einzelnen in den Bereichen, in denen sie sich einbringen möchten, guten Boden zu geben.

Radio loco-motivo

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Die Idee von Radio loco-motivo (von spanisch «loco», also «verrückt») stammt aus Lateinamerika. Die Berner Redaktion wurde von der Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Bern und der Radioschule klipp+klang gemeinsam mit Radio Bern RABE aufgebaut. Die bisherigen Sendung von loco-motivo Bern können auf der Website von klipp+klang gehört werden.

Was war für die Redaktionsgruppe das Wichtigste?

Liselotte Tännler: Das Arbeiten auf Augenhöhe. Dass jede und jeder mit den ganz persönlichen Stärken und Schwächen ernst genommen wurde. Bald schon stand fest, dass die wöchentlichen Redaktionssitzungen im offenen Redaktionsraum von Radio Bern RaBe stattfinden und nicht in einem externen, «geschützten» Raum. So konnte sehr schnell eine Integration stattfinden. Sehr wichtig waren aber auch die stetigen Erfolgserlebnisse: Eine Reportage, die stimmig tönt. Das erste Mal live auf Sendung gehen. Erleben, dass bei einem Versprecher die Welt nicht untergeht. Medizinische Fachleute interviewen und ihnen mit dem Mikrofon in der Hand nicht als Patient, sondern auf Augenhöhe zu begegnen.

Am 10.10. sendet eine zweite Redaktion, Radio loco-motivo Winterthur, erstmals bei Radio Stadtfilter in Winterthur. Worüber freuen Sie sich am meisten?

Liselotte Tännler: Die Redaktion von Radio loco-motivo Winterthur hat für ihre erste Sendung enorm gearbeitet. Wir konnten in Winterthur innert kurzer Zeit eine erste Sendung realisieren. Vertreter von Radio loco-motivo Bern haben bei der Lancierung ihre Erfahrungen beigesteuert. Dass die Idee sich ausbreitet, freut mich enorm. Die Vision, dass es über die ganze Schweiz verteilt Redaktionsgruppen gibt, die unter dem Titel Radio loco-motivo senden, dabei aber ihre jeweils eigene Identität finden, habe ich seit dem Start dieses Projekts vor drei Jahren. Also halte ich die Daumen gedrückt, dass es allen Beteiligten weiterhin gut läuft!

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