Wer Verena Kast gerecht werden will, kommt schnell einmal in die Bredouille. Wo beginnen? Bei der Kindheit im Appenzellerland? Bei ihrem Versuch als superkluges Mädchen in der Dorfschule nicht allzu intelligent zu wirken, um Neid zu vermeiden? Bei ihrer Liebe zu schnellen Autos? Bei ihrer grossen Fähigkeit, Komplexes allgemeinverständlich zu machen? Bei ihrem glockigen Lachen oder ihrem lockigen Blondschopf? Oder vielleicht doch bei all ihren Bestsellern? Beginnen wir mit ihrem 70. Wiegenfest und einem Buch für sie und zu ihrem Werk.
Festschrift «Die Kunst zu leben – die Kunst zu heilen.»
20 Weggefährten und Weggefährtinnen schreiben in der Festschrift «Die Kunst zu leben – die Kunst zu heilen.», was sie an der Professorin für Psychologie und C.-G.-Jung-Expertin haben und was sie ihr zu verdanken haben. Dabei attestieren der junggebliebenen Jubilarin viele, dass es ihr Verdienst ist, die Jungsche Lehre für eine breite Öffentlichkeit übersetzt, verständlich und lebensnützlich gemacht zu haben.
Gefeierte Denkerin
Verena Kast ist Gefühlen wie Trauer, Neid und Missgunst aber auch Ärger auf den Grund gegangen. Sie ist eine sehr vielseitige Autorin und das Quirlige, Nimmermüde und Neugierige der Jubilarin spiegelt sich auch in den Aufsätzen ihrer Kolleginnen und Kollegen.
Der Funke springt bei der Lektüre von «Die Kunst zu leben – die Kunst zu heilen.» mindestens zweimal: Einmal von der gefeierten Denkerin, Dozentin, Autorin und Therapeutin auf ihre Weggefährtinnen und Weggefährten. Und einmal von den Weggefährtinnen und Weggefährten auf mich als Leserin.
Kast gab der Trauer eine Struktur
Verena Kast hat wesentliche Emotionsforschung betrieben und sich schon anfangs der 80er Jahre mit ihrem Buch «Trauern» einen grossen Namen gemacht. Die Aufsätze, die sich darauf beziehen, haben mich animiert, die Trauerphasen im Original noch einmal nachzulesen. Immerhin war Kast im Jahre 1989 mit ihrer Habilitationsschrift eine Pionierin. Sie gab der Trauer eine Struktur:
- Die Phase des nicht Wahrhabenwollens
- Die Phase der aufbrechenden Emotionen
- Die Phase der Suche und sich Trennens
- Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs
Noch heute ist diese Orientierung im Trauerprozess für viele hilfreich und wegweisend. Doch die Texte in «Die Kunst zu leben – die Kunst zu heilen.» animieren nicht nur zum Denken und Lesen, sondern auch zum Hören: Ein wunderbarer Text der Traumatherapeutin Luise Reddemann regt dazu an, sich die Bachkantate Nr. 21 mit dem Titel «Ich hatte viel Bekümmernis» anzuhören. Reddemann arbeitet therapeutisch mit dieser Musik, schreibt darüber sehr eindrucksvoll und bezieht sich dabei auf Kasts Buch «Freude Inspiration Hoffnung».
Märchenanalyse «Hans im Glück»
Sehr angeregt hat mich auch ein Aufsatz von Ang Lee Seifert. Sie geht auf Kasts Märchenanalysen ein und behauptet, dass es kein Zufall ist, welches Märchen man als Kind immer und immer wieder hören will. Das hat mich animiert darüber nachzudenken, weshalb mich ausgerechnet der «Hans im Glück» über Jahre so beschäftigt hat. Als Kind von Eltern, die aufs Geld schauen mussten, tröstete es mich sehr, dass Hansens Klumpen Gold weniger wert ist als seine Freiheit und die Liebe seiner Mutter.
Zu denken gegeben hat mir auch der Beitrag der Psychiaterin und Psychotherapeutin Renate Daniel. Sie nimmt Kasts Buch «Abschied von der Opferrolle» auf und weist der 70jährigen Jubilarin nach, dass sie damit eigentlich die ganze Resilienzforschung vorweggenommen hat. Kast hat nämlich die starre Einteilung in Täter und Opfer aufgebrochen, und ein Gegenbild entworfen. Dasjenige des Gestalters oder der Gestalterin, eine Rolle die aus dem Ausgeliefertsein herausführt und Mut macht, das eigene Leben an und in die Hand zu nehmen.