Jahrzehntelang verlor Werner Kleeman über seine Vergangenheit kein Wort. «Früher hat sich niemand dafür interessiert», argumentiert der 95-jährige Mann heute. Seine Tochter Susan widerspricht: «Unser Vater hat seine Geschichte stets unter Verschluss gehalten.»
Aufgefallen war den beiden Töchtern von Werner Kleeman in ihrer Jugend nur, dass der Familienurlaub zufällig immer gerade dort stattfand, wo es auch ein Kriegs-Veteranen-Treffen gab. Ob auf den Bahamas, in South Carolina oder Pennsylvania: Regelmässig fanden sich dort ehemalige Armee-Angehörige ihres Vaters, mit denen er sich hinter verschlossene Türen zurückzog, trank und redete. Derweil taten die Frauen und Kinder das, was Familien während der Ferien gemeinhin tun: die gemeinsame Zeit geniessen, Dinge unternehmen, miteinander Spass haben.
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Das Entkommen aus der Hölle
«Ich wusste wirklich von nichts», versichert die heute 64-jährige Susan. Das änderte sich erst 1984, als sie ihren Vater zu Dreharbeiten in die Normandie begleitete. Der amerikanische Star-Reporter Tom Brokaw interviewte damals zum 40. Jahrestag des D-Day ehemalige US-Frontsoldaten, die an der Invasion der Normandie und damit an der Befreiung Westeuropas vom Nationalsozialismus teilgenommen hatten. «Während des Drehs zu diesem Dokumentarfilm liess man mich nicht einmal in die Nähe des Strandes», erinnert sich Susan. Erst nach Abschluss der Interviews erzählte ihr jemand aus der Film-Equipe die Geschichte ihres Vaters. Daraufhin rief sie mitten in der Nacht ihre jüngere Schwester Deborah in New York an. Es wurde ein langes Telefongespräch.
Werner Kleemann hatte seinen beiden Töchtern nicht nur seine dramatischen Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs verschwiegen. Er sagte ihnen auch nichts über seine traumatischen Erfahrungen als jüdischer Heranwachsender in Hitler-Deutschland: Ausschluss aus der öffentlichen Schule mit 14, Zwangsschliessung von Vaters Getreidemühle 1936, seine Verhaftung und Deportation nach Dachau 1938, im Anschluss an die Novemberpogrome. Nur mit sehr viel Glück und der Hilfe eines entfernten Verwandten in den USA war er dort der Hölle nach fünf Wochen entkommen, konnte über England in die Vereinigten Staaten ausreisen.
Die Rückkehr in die Hölle
Sechs Jahre später kehrte Werner Kleeman als junger Soldat und amerikanischer Staatsbürger ins besetzte Europa zurück. Er erlebte genau heute vor 70 Jahren die Landung der alliierten Divisionen an der Küste der Normandie. Und er gehörte zu einer der ersten alliierten Truppen, die im September 1944 deutschen Boden betraten.
Doch Werner Kleeman kehrte nicht nur auf den alten Kontinent zurück, um mitzuhelfen, Europa von der nationalsozialistischen Besatzung zu befreien. Er hatte auch ein sehr persönliches Motiv: Er wollte nach Kriegsende in sein altes, bayrisches Heimatdorf Gaukönigshofen zurück. Dort wollte er sicherstellen, dass all jenen der Prozess gemacht wird, die an den Novemberpogromen von 1938 beteiligt gewesen waren.
Zehn Leute wurden schliesslich auf seine Beweise hin vom neu ernannten Polizeichef verhaftet. Einen der Täter wollte Werner Kleeman allerdings eigenhändig dingfest machen. Es war jener Mann, der sieben Jahre zuvor für seine Deportation nach Dachau verantwortlich war: ein Gastwirt und Nazi-Parteimitglied der ersten Stunde.
«Er weinte viele Tränen»
Was Werner Kleeman in den Jahren zwischen der Machtergreifung Hitlers und dem Kriegsende erlebt und erlitten hat, werden seine beiden Töchter wohl nie ganz erfahren. Doch inzwischen hat er einen Teil der Erinnerungen in seinem Buch «Von Dachau zum D-Day» niedergeschrieben. Zudem hat er Deborah und Susan vor zehn Jahren zum 60. Gedenktag des D-Day in die Normandie mitgenommen. «An jenem Tag kamen die Söhne einstiger alliierter Fallschirmspringern auf unseren Vater zu», erinnert sich die 60-jährige Deborah. «Sie umarmten ihn und dankten ihm, weil er vor 60 Jahren mithalf, Saint Mère Eglise zu besetzten. Ihre Väter hätten so sicher landen können, anstatt den Nazis in die Hände zu fallen.»
Werner Kleeman zeigte seinen Töchtern damals alles: den Lande-Abschnitt Utah Beach, an dem seine Division am 6. Juni 1944 angekommen war; die Bunker der Deutschen; die Bar von Ernest Hemingway, der damals als Kriegsreporter für die US-Army mit dabei war. «Ich weiss ja nicht, was unserem Vater damals alles durch den Kopf ging», sagt Deborah, «aber er weinte viele Tränen.»
Am heutigen 70. Gedenktag der Normandie-Invasion wird der 95-jährige Werner Kleemann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr persönlich teilnehmen können. Aber Deborahs Tochter und ihr Ehemann werden in die Normandie reisen und für ihren Grossvater Ohren und Augen sein.