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Gesellschaft & Religion «Vor Ort ist es schlimmer als alles, was hier berichtet wird»

Neu anfangen – gerne, aber wie? Die Publizistin und Kriegsreporterin Carolin Emcke spricht in der Sternstunde Philosophie vom Begehren, das den Neuanfang prägt. Und münzt diesen Optimismus bewusst auf die zu uns kommenden Flüchtlinge, die vor dem Krieg fliehen und Neuanfänge suchen.

Zur Person

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Carolin Emcke (47) ist mehrfach preisgekrönte Kriegsreporterin und freie Publizistin. Grosse Beachtung finden ihre regelmässigen Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung.

Ihre jüngsten Bücher heissen:

  • «Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit», Frankfurt 2013
  • «Wie wir begehren», Frankfurt 2012

Carolin Emcke mag Neuanfänge. Im Gegensatz zu den berühmten Vorsätzen, an denen wir jedes Jahr aufs Neue scheitern. Neuanfänge seien schon mit den Jahreszeiten in der Natur gesetzt, aber auch mit vielen rituellen Formen religiösen Besinnens und der damit verbundenen Hoffnung auf Reinigung und Vergebung.

Neuanfänge haben für Carolin Emcke etwas Utopisches, Schöpferisches, weil man mit Hoffnung in etwas Neues hineingehe. Auch wenn die Vergangenheit für diese Hoffnung wenige Gründe liefere. Gute Vorsätze hingegen seien eher kritisch gedacht.

Sehnsucht braucht Bilder und Begriffe

«Alles beginnt mit der Sehnsucht», schrieb die jüdische Dichterin Nelly Sachs. Doch nicht immer haben wir Bilder oder Begriffe für das, was wir begehren. Wir begehren deshalb diffus, ohne dass wir wüssten, worauf sich die Sehnsucht richtet.

Genauso empfand Carolin Emcke ihre Pubertät: Sie sei ihren homosexuellen Gefühlen ausgeliefert gewesen und habe keine Begriffe für das eigene Begehren gehabt, schreibt Emcke auch in ihrem Buch «Wie wir begehren». Es sei damals nicht über Homosexualität gesprochen worden: «Man wusste, dass es Homosexualität gab, so, wie es die Wüstenfeldmaus gab.»

Geschichten von Flüchtlingen sind zerbrechliche Geschenke

Und dann schlägt Carolin Emcke eine überraschende Volte zu den Flüchtlingen: Diese flüchteten zwar vor Krieg und Vertreibung, Folter und Misshandlung. Es sei aber auch eine Flucht zu etwas hin, eine Flucht, die einem Begehren nachgehe. Dieses Begehren entstehe, weil in der globalisierten Welt auf einmal Bilder existierten davon, wie ein Leben ohne Gewalt auch sein könnte.

Sie erinnert an die neuen Möglichkeiten, sich im Internet und über Filme das Glück eines friedlichen Lebens ganz neu auszumalen. Mit Flucht verbinde sich ein Wegwollen von etwas gekoppelt an die Hoffnung auf ein würdiges Leben. Jede Mutter und jeder Vater könne das nachempfinden.

Carolin Emcke spricht mit vielen Menschen auf der Flucht vor Gewalt. Sie bewundert ihren Mut und die Kraft, aufzubrechen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Sie sagt, sie habe selten solche Bekenntnisse zu Europa, zu Demokratie, zu Freiheit und zum Rechtsstaat gehört wie von flüchtenden Menschen.

In ihrem Essayband «Weil es sagbar ist» reflektiert Emcke die Erfahrung mit dieser Art von Zeugenschaft – und spricht von einer ethischen Last: Es sei für diese Menschen sehr schwer, Vertrauen zu fassen. Zu glauben, dass ihnen jemand wirklich zuhöre und sie als Menschen wahrnehme. Emcke plädiert für einen behutsamen Umgang mit solchen Geschichten. Als Autorin habe sie eine Verpflichtung, diese Geschichten gut zu erzählen.

Poverty porn?

Welche Form findet Emcke, was kann sie darstellen, was lässt sie weg? Auf welche Menschen konzentriert sie sich, auf die exzentrischen oder auf die leiseren, vielleicht gebrocheneren Figuren? Man hat einer ihrer Kolumnen vorgeworfen, sie betreibe «poverty porn» , indem sie diese Berichte dramatisiere.

Darauf entgegnet sie sehr bestimmt: «Der Eindruck vor Ort ist so viel schlimmer als alles, was in der Berichterstattung hier ankommt!» Sie ist überzeugt, dass die Gesellschaft eine ethische Pflicht hat, Geschichten von erlebter Gewalt und Verfolgung zu erzählen, auch wenn sie schwer zu ertragen sind.

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