War das SARTR-Theater der Versuch, Theater gegen den Krieg, gegen die Zerstörung und das Töten zu machen?
Nihad Kreševljaković: Theater und Kunst zu erleben, das hat unsere Erfahrung während der Belagerung von Sarajevo gezeigt, gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Alles, was die Menschen damals getan haben, um mitten im Krieg ein Stück Normalität zu leben, diente auch dazu, dass wir unsere Identität, unsere Würde als Mensch behalten. Das war die wichtigste Schlacht, die von den Einwohnern Sarajevos damals geschlagen wurde.
War es ein Akt des Widerstands?
Ja, absolut. Man nannte es ja auch die Kunst des Widerstands. Ohne Kunst und Kultur kann man seine Identität als Mensch nicht bewahren. Die Menschen wollten damals auch gut aussehen.
Ein Freund hat die Geschichte eines Mädchens aufgeschrieben, die auf der Titova-Strasse, der sogenannten Sniper-Allee, gestorben ist. Er beschreibt, wie sie zuhause vor dem Spiegel sitzt, sich frisiert, das Kleid auswählt, das sie tragen will – und dann hinaus geht, auf die Strasse, und dort von einer Granate getroffen wird. Doch sie hatte es wenigstens geschafft, schön zu sein, als sie auf einer Strasse in Sarajevo starb.
Als das SARTR-Theater 1992 gegründet wurde, legte die Stadt Sarajevo in den Statuten fest, dass von diesem Theater ein Signal für die Verteidigung der Stadt ausgehen solle. Das war die Idee.
Es kamen auch prominente Unterstützer wie Susan Sontag nach Sarajevo, die während der Belagerung mit bosnischen Schauspielern Samuel Becketts Stück «Warten auf Godot» inszenierte.
Darüber gab es sehr unterschiedliche Meinungen, Zyniker meinten, dass manche nur wegen ihrer eigenen Karriere kamen. Das trifft aber nicht zu. Nicht auf Susan Sontag, die hier einige sehr wichtige Texte schrieb. Man sollte sich vielmehr fragen, welche Rolle Intellektuelle heutzutage spielen, in einer Welt, die so sehr von den Medien bestimmt wird.
Es gibt kaum noch Intellektuelle, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, vielleicht geben sie ihre Meinung im TV kund, aber wir haben vergessen, dass Intellektuelle früher wie zum Beispiel George Orwell und viele andere nicht nur ihre Gedanken geäussert haben, sondern vor Ort mit der Waffe in der Hand für Freiheit gekämpft haben. Susan Sontag war eine der letzten, die das auf ihre Art tat und nicht nur davon überzeugt war, dass es reicht, wenn man irgendwo einen Artikel veröffentlicht.
Die Vergangenheit ist eine schwere Bürde. Was kann man daraus lernen, 20 Jahre nach dem Krieg?
Kriege prägen viele Stereotype wie «Krieg ist etwas Schlechtes» zum Beispiel. Zum Glück erleben wir jetzt Frieden. Andererseits bringt ein Krieg aber auch die besten Seiten eines Menschen zum Vorschein. Deshalb lehren Kriege uns vieles. Alles, was ich über das Leben weiss, habe ich damals während der Belagerung Sarajevos als Teenager gelernt.
Man entwickelt ein anderes Bewusstsein für die Realität des Lebens, und diese Erfahrung meine Perspektive bis heute. Vieles nehme ich immer noch als Schlacht, als eine Art Kampf wahr.
Heute müssen Sie aber nicht mehr ums Überleben kämpfen. Wofür kämpfen Sie jetzt?
Leider sind wir umzingelt von Problemen, genauso wie wir damals von serbischen Truppen umzingelt waren. Wir haben tausende von Problemen, müssen uns mit korrupten Politikern beschäftigen, mit Kriminalität. Und mit einer Form von Ungerechtigkeit, die zu Kriegsende festgelegt wurde.
Nach dem Krieg haben Europa und die Welt die «ethnisch gesäuberten» Teile Bosniens anerkannt, legalisiert und damit der Welt mitgeteilt, dass man seine Nachbarn umbringen darf und dafür auch noch mit Territorium belohnt wird. Das sollte uns für die Zukunft beängstigen.
Es ist sehr schwer, heutzutage optimistisch zu sein. Aber ich versuche es, so gut ich kann, und ich glaube, dass Optimismus ein menschlicher Zug ist, und man die Welt so sehen sollte. Deshalb glaube ich an die Idee von Bosnien. Man muss realisieren, dass Bosnien zwar ein kleiner Staat ist, der aber als Ganzes gesehen eine Perspektive für Europa bietet.
Wir haben hier eine Vielfalt, eine Unterschiedlichkeit, für die wir kämpfen müssen. Denn diese Vielfalt an Ethnien ist ein Geschenk Gottes, und um eine Welt zu schaffen, in der viele Unterschiede nebeneinander existieren, muss man den Vorteil der Unterschiede erkennen, Freude daran haben, anstatt sich gegenseitig zu hassen, nur weil man anders ist.
Wie kann man diese Feindschaft überwinden?
Das Wichtigste ist, eine Form von normaler Kommunikation zwischen den Leuten und den Ethnien zu entwickeln. Hier in Bosnien sind die stereotypen Feindbilder die eigentlichen Feinde. Deshalb müssen wir auf Verständigung beharren.
Es ist viel ehrlicher zuzugeben, dass man heute mit seinen Nachbarn Probleme hat, weil sie die Stadt vier Jahre lang belagert und versucht haben, mich und meine Freunde umzubringen, nur weil wir den falschen Namen hatten oder am falschen Ort lebten. Das werde ich nicht so schnell vergessen, geschweige denn verzeihen.
Aber nur das Gespräch, die Auseinandersetzung über all diese Themen wird andere Verhältnisse schaffen. Das wäre der erste Schritt in eine bessere Zukunft.