Zum Inhalt springen
Ein Auge eines Schafes in Nahaufnahme.
Legende: Schau mir in die Augen, Schaf: Menschen lernen, mit Tieren zu interagieren. Flickr/Just chaos

Gesellschaft & Religion Was uns Schafe zu sagen haben

Wenn wir Tiere beobachten und mit ihnen interagieren, lernen wir viel über uns selber – und über unser Verhalten zu Mitmenschen. Denn Vierbeiner lassen sich von Zweibeinern nicht täuschen. Zu Besuch in einem Begegnungshof, wo Besucher auf Schafe, Ziegen oder Kaninchen treffen.

Die Schweiz ist weltweit das einzige Land, in der die Würde des Tieres in der Verfassung verankert ist – das Tier also nicht als Sache gilt. In fast jedem dritten Schweizer Haushalt lebt mindestens ein Haustier und Ferien auf dem Bauernhof werden immer beliebter.

Wir sind also ein tierliebendes Volk. Bloss: Diese Liebe garantiert nicht, dass wir die Tiere auch artgerecht halten, sie «lesen» können und ihre individuellen Bedürfnisse erkennen. Würden wir den Tieren mehr Aufmerksamkeit schenken, könnten nicht nur sie davon profitieren, sondern auch wir selber und unsere Mitmenschen. Davon sind Experten überzeugt.

Begegnungshof, kein Streichelzoo

«Ich habe erst jetzt herausgefunden, dass ich eigentlich ein Alphatier bin. Vielleicht hätte ich mein Leben anders gelebt, hätte ich das früher gewusst», sagt eine ältere Frau, die mitten in einer Schafherde steht. Wir sind in Grünwald bei München auf dem Begegnungshof von Ina Kirchhoff. Die Hofbesitzerin leitet zusammen mit Coach Doris Semmelmann Seminare unter freiem Himmel. Die Kursteilnehmer sind Zweibeiner, die Ko-Trainer Vierbeiner: Schafe, manchmal Ziegen, Kaninchen, Hofhund Schoko und Katze Elsa.

Begegnungshöfe wie dieser sind explizit keine Streichelzoos, sondern Stätten, an denen der Mensch artgerecht gehaltenen Tieren respektvoll begegnet. Eine solche Begegnung ist jetzt auf Kirchhoffs Hof, einem ehemaligen Forsthaus, in Gang. Eine Besuchergruppe beobachtet und studiert die Schafherde.

Tiere lassen sich nicht täuschen

Wie verhalten sich die Fluchttiere? Bleiben sie gelassen trotz potentieller Gefahr, oder geraten sie in Unruhe, vielleicht sogar in Panik? Ina Kirchhoff: «Fluchttiere brauchen Sicherheit, klare Strukturen und Ruhe. Wenn ich mich einer Herde nähere und möchte, dass sie nicht vor mir wegläuft, muss ich mich sicher und ruhig verhalten.

Das muss aber authentisch sein, was sich in meiner Körpersprache ausdrückt. Tiere lassen sich nicht täuschen. Bleibt die Herde gelassen, hat das auf mich einen interessanten Rückkoppelungseffekt, weil ich selber ruhiger werde und ich mich als jemanden erfahre, der einer Gruppe Sicherheit geben kann.»

Gleich und gleich gesellt sich gern

Welches Tier sucht den Kontakt zu welchem Menschen? Ist es das Alphatier? Oder vielleicht das Leittier? Doris Semmelmann: «Es gibt in einer Herde ein Tier, das vorausgeht und den Weg weiss, das Alphatier. Und es gibt eines, das hält von hinten die Herde zusammen, das ist die antreibende, die leitende Position. Diese hat auch mit Führungsqualitäten zu tun. Die beiden Rollen werden in unserer Gesellschaft häufig in einen Topf geschmissen. Leider. Wir hatten in einer Gruppe einen Manager, der hier zum ersten Mal kapiert hat, dass es einen Unterschied gibt zwischen Führen und Leiten.»

Ob das Alphatier, das Leittier, oder keines von beiden die Nähe des Managers gesucht hat, haben uns die Seminarleiterinnen nicht verraten. Die ältere Frau, die von ihren Fähigkeiten, eine Gruppe zu führen, bisher nichts geahnt hat, bekommt auf jeden Fall laufend Besuch vom Alphatier. Verblüffend.

Die passende Rolle in einer Gruppe finden

Link zum Thema

Als nächstes wird die Gruppe aufgefordert, mit den Tieren zu interagieren. Die Herde von einer Weide auf die andere zu führen. Wer übernimmt spontan welchen Part? Wie sprechen sich die Menschen untereinander ab? 80 Prozent der Kommunikation findet auch beim Menschen nonverbal statt, über Körpersprache.

Nach kurzen Anlaufschwierigkeiten gelingt es den Mitgliedern, die Aufgabe zu bewältigen. Ina Kirchoff: «Sie haben schnell gemerkt: Mit reiner Theorie funktioniert es nicht. Und sie haben festgestellt, dass sie sich in bestimmten Rollen wohl fühlen. Egal, ob jemand die führende Position einnimmt oder im Hintergrund bleibt. In einer Herde ist jede Position relevant. Gleichwertig.»

Mensch und Tier befinden sich in einer ähnlichen Situation

Aus unserem Umgang mit Haus- und Nutztieren lässt sich einiges über unseren Umgang mit uns selber und mit unseren Mitmenschen ablesen. Wenn wir Tieren, die in menschlicher Obhut leben, Zeit und Aufmerksamkeit schenken, mit ihnen in einen Dialog treten und studieren, wie sie miteinander kommunizieren, wie sie reagieren und welche ihre Bedürfnisse sind, können wir einiges über uns selber erfahren. Und daraus lässt sich ein Nutzen ziehen für das soziale Miteinander. Denn die Mensch-Tier-Beziehung wirft uns auf die Mensch-Mensch-Beziehung zurück.

Meistgelesene Artikel