Wir, die Redaktion Kunst und Gesellschaft, sassen in einem sonnendurchfluteten Turmzimmer einer ehemaligen Basler Brauerei. Es war am Tag der Redaktionsretraite. Draussen war es bitter kalt. Drinnen redeten wir uns die Köpfe heiss. Es ging um die Ehe. Und um potentielle Radiosendungen zur staatlich, manchmal auch kirchlich geregelten Zweisamkeit.
Die Ehe als Gegenentwurf
Alle hatten eine Meinung: «Ich verstehe nicht, warum die Ehe für Schwule und Lesben so attraktiv ist», sagte einer, der von der Ehe enttäuscht schien. «Nicht vergessen werden darf die Ehe als Armutsrisiko für die Frau», gab eine Kollegin zu bedenken, und der Redaktor neben ihr meinte lakonisch: «Nichts ist so gefährlich wie das gemeinsame Leben in den eigenen vier Wänden.» Er schreibt in der Freizeit Kriminalromane und kennt sich in der Gewaltstatistik aus.
«Ehe ist die Abkürzung für ‚errare humanum est‘», fügte jemand hinzu. Einige lachten. Andere hoben zur Gegenrede an: «In der Generation meiner Tochter wird wieder geheiratet, ganz in Weiss und mit Glanz und Gloria. Das sind die Kinder, die in Patchworkfamilien aufgewachsen sind, die auf alte Werte wie Treue und ewige Liebe setzen.» Und jemand ergänzte: «Sehr verständlich, denn in einer von der Marktwirtschaft beherrschten Welt ist das Paar, ist die Familie ein valabler Gegenentwurf.»
Von der lebhaften Debatte zum Sendekonzept
Von Scheidungsquoten und Polyamorie war die Rede. Von der neuen Bürgerlichkeit und dem gesellschaftlichen Backlash, von Steuer-Ungerechtigkeit und dem grossen Glück: ein kreatives Chaos, lebensgeschichtlich unterfüttert und weit entfernt von einem schlüssigen Konzept für eine Sendung. Schliesslich meinte eine Kollegin, die lange schweigend und mit einem rätselhaften Lächeln zugehört hatte: «Ich schlage vor, dass wir alle ein Ehethema auf einen Zettel schreiben, nämlich jenes, das uns am meisten unter den Nägeln brennt. Zwei, drei von uns erarbeiten dann daraus ein Sendekonzept.» Grosses Einverständnis und Bahn frei für das nächste Traktandum.
Sechs Thesen über die Ehe
Die nächsten Schritte sind schnell erzählt. Es gingen so viele Themen ein, dass schnell klar wurde: Da gibt es genügend Stoff für einen ganzen «HörPunkt». Aus dem kreativen Chaos, das ursprünglich zu einem Kontext-Schwerpunkt führen sollte, wurde so ein stringentes Konzept für die längste aller Sendestrecken auf Radio SRF 2 Kultur, den «HörPunkt»: sechs Stunden Sendung, das heisst am 2. Juni sechs Thesen zur Ehe. Jede These wird während einer Stunde gedreht und gewendet, mit Fakten untermauert und musikalisch umspielt.
- «Die Ehe ist die bürgerlichste aller Institutionen. Sie ist nicht Lust, sondern Pflicht.»
- «Die Ehe ist zu intim für guten Sex.»
- «Die Ehe ist ein Auslaufmodell und muss neu erfunden werden.»
- «Die Ehe ist ein Sakrament. Sakrament!»
- «Nirgendwo gibt es so viel Gewalt wie in der Ehe.»
- «Die Ehe ist ‚Work in progess‘. Nur in der Dauer entwickelt sie sich zu dem, was sie sein soll.»
Ein HörPunkt mit Ehe-Improvisationen und laut Gedachtem
Silvia Bickel Renn und Klaus Renn, ein renommiertes Autoren-, Therapeuten- und Ehepaar, lassen sich von den Thesen zum lauten Denken animieren, und das Schauspieler-Ehepaar Dalit Bloch und Daniel Buser von «Touche ma bouche» improvisiert dazu.
Kollektives Heulen vor dem TV
Königliche Hochzeiten
Wenn die schwedische Prinzessin ihren Physiotherapeuten heiratet und der britische Prinz William seine Kate zum Altar führt, dann ist das jedem Fernsehsender eine teure Übertragung wert. Millionen von Menschen diskutieren dann die Schönheit des Brautkleids, warten auf das medial verbreitete Jawort und lauschen dem grossen Versprechen: «… ich will dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens, in guten und in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit. Bis dass der Tod uns scheidet.»
Das verflixte siebte Jahr ist ein Ammenmärchen
Aber für fast die Hälfte der Paare kommt die Scheidung lange vor dem Tod. Laut dem Bundesamt für Statistik scheiterten in den letzten fünf Jahren in der Schweiz zwischen 43 und 54 Prozent der Verheirateten an ihrer Glücksvorstellung. Vom Jawort bis zum endgültigen Aus verstreichen durchschnittlich 14,5 Jahre. Das verflixte siebte Jahr ist also ein Ammenmärchen. So schnell weichen die meisten nicht ab vom Sehnsuchtsprojekt Ehe.
Ein Philosophie-Magazin fragt im Hauptteil seiner Frühlingsausgabe: Ist das Paar ein überkommenes Beziehungsmodell oder die letzte Utopie unserer Zeit? Auch das Zürcher Pfarrblatt der katholischen Kirche legt in seiner April-Nummer den Schwerpunkt auf das Ehesakrament. Wir sind also mit dem «HörPunkt» «Wehe, die Ehe» medial reichlich flankiert. Offenbar ist die Sehnsucht, die Liebe seines Lebens zu finden, noch immer für viele ein Thema. Es scheint: Je mehr Freiheiten wir haben, je mobiler und flexibler wir im Leben unterwegs sind, desto drängender wird der Wunsch nach Zugehörigkeit, Geborgenheit und Wärme.
Die Zweitehe als Triumph der Hoffnung über die Erfahrung
Der Schauspieler Heinz Rühmann brachte die gute Ehe einmal auf die Formel: «Man ist glücklich verheiratet, wenn man lieber heimkommt als fortgeht.» Und diese Freude am Heimkommen scheint ein Ideal zu bleiben, selbst wenn man mit diesem Zweisamkeitstraum schon einmal gescheitert ist. Wer kennt nicht Frauen und Männer, die einen zweiten Anlauf zum Glück nahmen und noch einmal Hochzeit feierten? Die Zweitehe als Triumph der Hoffnung über die Erfahrung.
Obwohl das Single-Dasein in den Städten der Normalfall ist, heisst das noch lange nicht, dass es auch gewünscht ist. In der Schweiz heiraten pro Jahr rund 42‘000 Menschen. Die Zahl ist seit fünf Jahren stabil. Die Männer sind laut der Statistik des Bundesamts leicht ehewilliger als die Frauen.
Längeres Leben, längere Ehe
Von jugendlichem Leichtsinn kann bei den Eheschliessungen keine Rede sein: Die Schweizerinnen und Schweizer sind etwa um die dreissig, wenn sie sich ihr Jawort geben. Rechnet man die durchschnittliche Ehedauer von 14,5 Jahren dazu, sind sie Mitte vierzig, wenn es zu Ende geht. Also fast schon in dem Alter, in dem man zu Beginn des letzten Jahrhunderts starb. Um 1900 konnten die Männer von gut 46 Jahren Lebenserwartung ausgehen, die Frauen mit knapp 49 Jahren rechnen. Heute leben Männer und Frauen im Schnitt viel länger: 79,4 Jahre die Männer und 84,2 Jahre die Frauen. Viel Zeit, um sich zu trauen. Und das im doppelten Sinn des Worts.