Samuel Pfeifer, Sie haben vor 30 Jahren in der Notfallabteilung eines Spitals in Israel gearbeitet, wo viele Palästinenser behandelt wurden. Was haben Sie dort erlebt?
Samuel Pfeifer: Wenn ein Patient ein psychisches oder auch ein körperliches Problem hatte, sagten die Leute: «Das ist ein ‹Dschinn!›» So heissen im islamischen Raum unsichtbare, dämonenartige Wesen. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die in einem scheinbar bewusstlosen Zustand ins Spital kam. Mein arabischer Kollege sagte, das sei keine richtige Bewusstlosigkeit. Er hatte Recht: Sie war noch nicht verheiratet, wurde in ihrer Familie benachteiligt, missbraucht als Dienstmädchen.
Als man sie her brachte, war die junge Frau kaum ansprechbar und hatte einen völlig fixierten Ellbogen. Sie war in einer Art Trance. Man sagte mir, sie sei «madschnun», also von einem «Dschinn» besessen. Als wir ihr Valium gaben, liess sich der Arm wieder völlig frei bewegen.
Seither hat Sie dieses Thema nicht mehr losgelassen. Kürzlich haben Sie in London einen Kongress besucht zum Thema «Spirit Possession and Mental Health». Es ging dort auch um Geisterbesessenheit in den muslimischen Communities in Europa.
In London leben viele islamische Ethnien aus dem asiatischen Raum, aus Pakistan, Bangladesch. In ihren Quartieren gibt es traditionelle Heiler, teilweise sind sie auch Imame. An diese wenden sich viele Gläubige mit körperlichen wie psychischen Problemen zuerst. Häufig lautet dann die Erklärung, es handle sich um eine «dschinn possession».
Was für Therapien wenden diese Heiler an?
Die Heiler schreiben zum Beispiel einen Koranvers auf einen kleinen Zettel, verstauen ihn in eine Kapsel, und diese Kapsel sollen die Patienten dann als Amulett auf dem Körper tragen. Oder sie empfehlen, ein Huhn zu opfern oder ein Schaf, bei besonders hartnäckigen Geistern wird auch mal eine Summe Geld gefordert.
Der Anthropologe und Psychiater Simon Dein, der diese Forschungen vorgestellt hat, sprach auch von Heilern, welche die Notsituation der Leute ausnützen und relativ viel Geld verlangen. Es gibt also auch dort eine Subkultur, in der Geld und Geist sich mischen.
Gehen diese Menschen nicht zu Ärzten?
Häufig gehen sie zu ihrem Familienarzt. Aber unser westliches Modell, unser Verständnis von Krankheit und Medizin macht die Menschen aus diesen Kulturen eher misstrauisch. Sie können nicht glauben, dass all ihre Probleme einfach auf Stress zurückzuführen sind oder auf eine genetische Veranlagung für eine bestimmte Krankheit.
Sie sind oft überzeugt, dass eine Kraft dahinter ist, die ihre Probleme verursacht. Ausserdem befürchten Menschen aus völlig anderen Kulturen oft, dass der westlich orientierte Arzt sie nicht versteht und sie für rückständig hält, wenn sie davon sprechen, dass sie eine geistige Macht hinter ihren Problemen vermuten.
Daher verschweigen sie dem Arzt, dass sie sich zum Beispiel von einem «Dschinn» besessen fühlen. Oder sie fahren zweigleisig: der Doktor gibt ihnen Schmerztabletten oder Tabletten gegen die Depression, aber um wirklich nichts zu verpassen gehen sie auch zum lokalen Heiler.
Wie bewerten Sie solche Praktiken?
Als Psychiater habe ich starke Vorbehalte. Es mag sein, dass so etwas in leichteren Fällen einen gewissen subkulturellen Trost gibt. Aber bei schweren psychischen Erkrankungen reicht das leider nicht.
Ich habe 2010 in Bali erlebt, dass man schizophrene Patienten derart fürchtet, dass man sie in einem Hinterhof ankettet. Die dortige animistisch-hinduistischen Kultur kennt durchaus Besessenheit und Trance-Rituale von Heilern. Doch bei schweren Zuständen nützen diese Rituale nicht viel.
Ich habe in Bali eine eindrückliche Psychiaterin getroffen, Luh Ketut Suryani. Sie stiess in entlegenen Dörfern der Insel auf schwer psychisch gestörte Menschen, die von ihren Verwandten während Jahren in Käfigen oder Ketten gehalten werden.
Ich habe selber angekettete Menschen im Hinterhof gesehen. Die Angehörigen haben Angst, sie könnten im Dorf die Menschen angreifen. Oft haben die Rituale von Heilern keine Fortschritte gebracht, und es fehlt das Geld für eine Behandlung.
Die Psychiaterin bringt diesen Patienten Neuroleptika, also Medikamente gegen Psychosen. Sie und ihre Helfer verabreichen den Patienten regelmässig Depotspritzen mit diesen Medikamenten. Viele von ihnen können heute dank der Behandlung ohne Ketten leben.
Wie fliessen diese Erfahrungen in Ihren psychiatrischen Alltag ein?
Bevor ich in den Nahen Osten reiste, kannte ich nur die christliche Sicht von Exorzismus und Besessenheit. Ich war fasziniert, dass es dieses Phänomen auch in anderen Kulturen gibt. Man kann sagen, dass fast jede Kultur das ultimativ Böse, das Unverständliche in einem Konzept von personalisierter Kraft fasst. Eine Kraft, die man dann vielleicht austreiben muss, oder begrenzen, besänftigen. Das scheint ein Grundmuster zu sein über die verschiedenen Kulturen hinweg.
Ist die moderne Psychiatrie gerüstet für den Umgang mit diesen Kulturen?
Ein Hoffnungssignal ist, dass die Deutsche Gesellschaft der Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie reagiert hat: Sie hat ein Fachreferat «Religiosität und Spiritualität» gegründet. Dort können spirituelle Erklärungsmodelle für psychische Erkrankungen diskutiert werden, in einer sachlichen und vielleicht auch ethnologisch einfühlsamen Art und Weise.