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Nahaufnahme von Marianne Bachmeier.
Legende: Marianne Bachmeier erschoss 1981 im Gerichtssaal den mutmasslichen Mörder ihrer Tochter. Keystone

Gesellschaft & Religion Wenn Menschen selber Richter spielen

Für die Bestrafung von Verbrechen sind die Gerichte zuständig. Trotzdem richten Menschen selbst: fällen Bäume auf Nachbargrundstücken oder greifen zur Waffe. Der Strafrechtsexperte Martin Killias spricht im Interview über Selbstjustiz und inwieweit diese eine Folge von zu milden Strafen ist.

Wie alltäglich ist Selbstjustiz?

Martin Killias: Die wenigsten Menschen neigen zu Selbstjustiz. Eine Umfrage zum Thema Sicherheit hat ergeben, dass sich nur ganz wenige Schweizer mit einer Waffe verteidigen. In einer von uns seit 1980 geführten Datenbank mit 1500 Mordfällen sind 15 auf Notwehr zurückzuführen – die Hälfte davon waren Polizisten, die im Dienst handelten. Aber Selbstjustiz beschränkt sich ja nicht nur auf Mord und die bekannten Fälle wie der von Marianne Bachmeier, die 1981 den mutmasslichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschoss.

In der Öffentlichkeit wird Selbstjustiz vor allem wahrgenommen, wenn es um Kapitalverbrechen geht. Gibt es Selbstjustiz auch im Kleinen?

Zur Person

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Martin Killias war Professor an der Universität Lausanne und nebenamtlicher Richter am Bundesgericht. Von 2006 bis 2013 lehrte er Strafrecht, Strafprozessrecht, internationales Strafrecht und Kriminologie an der Universität Zürich. Der emeritierte Professor ist heute an der Universität St. Gallen tätig.

Beispielsweise wenn jemand an seinem Arbeitsplatz illegal gewisse Dokumente an sich nimmt, um etwa Entschädigungsansprüche besser belegen zu können. Oder, wenn eine Person den zu hohen Baum in Nachbars Garten kurzerhand selber fällt.

Wieso goutiert die Gesellschaft gewisse Fälle von Selbstjustiz und andere nicht?

Das ist schwierig zu beantworten. Mehr Verständnis findet wahrscheinlich, wer zugunsten Dritter und vor allem von Kindern zur Selbstjustiz greift.

Wenn jemand Selbstjustiz verübt, hat dann vorher das Rechtssystem versagt?

Opfer, dessen Angehörige und auch die Öffentlichkeit erwarten, dass die Justiz Straftaten angemessen und innert nützlicher Frist ahndet. Geschieht dies nicht, löst das bei den Betroffenen zuweilen Frustration aus. Allerdings versuchen dann nur die wenigsten, selber Richter zu spielen.

Grundsätzlich ist es Sache von Polizei, Staatsanwalt oder Richter einen Täter zu verfolgen oder zu bestrafen. Darf ich trotzdem einen flüchtenden Velodieb vom Fahrrad reissen?

In dieser Ausnahmesituation ja. Da der Angriff – das wäre hier ein Diebstahl oder Raub – in diesem Moment geschieht, liegt eine Notwehrsituation vor. In einer solchen hat jede Person ein Verteidigungsrecht. Aber die eingesetzten Mittel müssen verhältnismässig bleiben. Sie dürfen den Dieb nicht erschiessen, aber sie dürfen ihm die gestohlene Sache wieder abnehmen oder ihn festhalten, bis die Polizei kommt.

Kann die Justiz Selbstjustiz verhindern?

Ja. Einerseits spielt die Polizei eine wichtige Rolle bei der Prävention von Selbstjustiz. Anderseits stellt die Justiz mit angemessenen Urteilen die Gerechtigkeit wieder her. Das senkt die Wahrscheinlichkeit massiv, dass jemand zur Selbstjustiz greift.

Das Opfer versteht aber unter Gerechtigkeit vielleicht etwas anderes als die Richter. Ist das nicht ein Dilemma?

Zwischen den Strafen, die ein Richter auferlegt, und den Wertvorstellungen einer Gesellschaft besteht ein enger Zusammenhang. In den USA wird die Todesstrafe noch vollstreckt, in der Schweiz ist sie seit 1942 verboten. Dies widerspiegelt sich auch in der öffentlichen Meinung: In Amerika sind viel mehr Menschen für die Todesstrafe als bei uns. Die Arbeit der Richter prägt so auch die öffentliche Wahrnehmung von Gerechtigkeit und damit der «angemessenen» Strafe. Dasselbe gilt für Genugtuungssummen: Wie viel man nach Ansicht der Leute für einen gebrochenen Arm bekommen soll, hängt stark von der Gerichtspraxis ab. In den USA fallen die Beträge viel höher aus als in Europa.

Sie kritisieren die milde Schweizer Strafjustiz. Was stört Sie?

In der Schweiz kommen Täter von schweren Straftaten wie Vergewaltigung oder Raub nur ganz selten ins Gefängnis – meist erhalten sie eine bedingte Strafe. Die langjährige Freiheitsstrafe für die Schweizer Schüler, die während einer Klassenfahrt in München fünf Personen schwer verletzt haben, wäre in der Schweiz undenkbar gewesen. Hier hätten sie wohl einen Gewalttrainingskurs oder sonstige Zuckerwasseraktionen auferlegt erhalten. Doch nicht nur im Vergleich zu Deutschland, sondern auch zu den übrigen europäischen Ländern sind in der Schweiz viel zu viele Strafen «bedingt» bei schweren Verbrechen.

Was sind die Folgen?

In meinen Augen ist durch diese Exzesse das richterliche Ermessen gefährdet, das sich über viele Jahrzehnte entwickelt hat und eine ganz wichtige Errungenschaft ist. Immer wieder gab es in der Geschichte Versuche, die Richter enger ans Gesetz zu binden. Aufgrund der Frustration über das milde Strafrecht könnte dies hierzulande bald wieder der Fall sein. Ich fürchte eine Volksinitiative, die in der Verfassung Mindeststrafen festschreiben würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schweizer für eine solche Initiative stimmen, ist viel höher, als dass sie vermehrt das Recht in die eigene Hand nehmen.

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