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Zwei Menschen sprechen hinter einem halbtransparenten Sichtschutz.
Legende: Sind wir zum Dialog verpflichtet oder gibt es gute Gründe, ihn zu verweigern? Fragen, die in Berlin diskutiert werden. Getty Images

Gesellschaft & Religion Wie man unlösbare Konflikte lösen kann

Dialog und Verständigung sind die Schlüssel zum Lösen von Konflikten. Aber was tun, wenn die Probleme als unlösbar gelten? An einer Tagung in Berlin kamen interessante Vorschläge zur Sprache. Zum Beispiel der, einen verhärteten grossen Konflikt in kleine Teilkonflikte aufzuspalten.

«Die Welt ist immer weniger dialogfähig.» Klare Worte, die Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, zur Eröffnung der Berliner Tagung fand. Man könne an der konfliktvermeidenden Wirkung von Dialogen durchaus zweifeln, wenn – wie in der Ukraine – die Friedensordnung des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu gelten scheine. Oder wenn Auseinandersetzungen religiös überformt würden und neue, nichtstaatliche Akteure wie die Terrorbanden von ISIS oder Boko Haram auftreten.

Über Teilbereiche zur Gesamtlösung

Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier hält Dialoge trotzdem für unabdingbar. Man müsse an der Weltvernunft arbeiten, sagte er. Damit verwies er auf eine Maxime des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt. Es sei wichtig, den anderen zu verstehen, denn über das Verständnis eröffneten sich in der Regel auch Wege zur Verständigung. Ein kulturelles Verständnis sei der Schlüssel zum Dialog.

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Doch was, wenn die Konflikte derart grundlegend sind, dass sie als unlösbar gelten? In religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen ist das oft der Fall. Die Philosophieprofessorin Rahel Jaeggi der Berliner Humboldt-Universität glaubt, dass es hilft, Konflikte in Problemfelder aufzuspalten. Wenn man sich in Teilbereichen einigen könne, gelänge oft auch eine Lösung des Gesamtproblems.

Lebensformen statt Kulturen

Um solche Teilbereiche auszumachen, bedient sich Rahel Jaeggi des Begriffs der Lebensformen. «Das Gute an diesem Begriff ist seine Flexibilität», sagt die Wissenschaftlerin. «Ich kann eine Familie als Lebensform bezeichnen, aber auch die kapitalistische Gesellschaft. Welchen Bereich ich wähle, ist abhängig vom zu betrachtenden Problem.»

Angehörige einer Lebensform teilten, wie Jaeggi betont, dieselben Werte und Grundeinstellungen. Diese können sich zum Beispiel in Rechtssystemen oder Familienmodellen manifestieren. Auch Äusserlichkeiten – wie die Vorliebe für bestimmte Modeartikel oder Architekturstile – sprächen für die Zugehörigkeit zu einer Lebensform. Im Gegensatz zum Begriff der Kultur, der sehr kompakt sei, gestatte es der der Lebensform, einzelne soziale Praktiken zu betrachten.

Argumente statt Vorwürfe

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«Lebensformen sind historisch gewachsen und lassen sich daraufhin untersuchen, ob sie der heutigen Zeit angemessen sind oder nicht», sagt Rahel Jaeggi. Sie verweist auf die religiös motivierte Beschneidung männlicher Kinder. In Deutschland wird seit einigen Jahren darüber diskutiert, ob sie eine Körperverletzung sei oder nicht. «Wenn diese Frage einfach von oben per Gesetz entschieden wird, empfinden das die Juden als Angriff der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf ihre Religion.»

In ergebnisoffenen Dialog aber gehe es darum, in welcher Zeit die Praxis der Beschneidung entstanden ist und unter welchen hygienischen Bedingungen. Führe man einen solchen Dialog, so Jaeggi weiter, finde man auch in der jüdischen Gemeinschaft Unterstützer. «Was früher ein Gebot der Hygiene war, ist es heute nicht», – dieses Argument könne jüdische Eltern viel eher überzeugen, als der pauschale Vorwurf, dass eine jahrtausendealte Praxis eine Körperverletzung sei.

Das Land aufzuteilen ist nur eine denkbare Lösung

Ein Dialog setzt die gegenseitige Anerkennung der Konfliktparteien voraus – darauf wies bei der Tagung in Berlin der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh hin. Er war bis zum vorigen Jahr Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem.

Dass Israelis und Palästinenser miteinander sprechen, empfindet er als eine gewaltige Errungenschaft. «Im Moment stecken die Verhandlungen in einer Sackgasse, weil beide Seiten dasselbe Territorium für sich beanspruchen. Das Land aufzuteilen ist aber nur eine denkbare Lösung des Konflikts.»

Nicht die Vergangenheit ändern, sondern die Zukunft gestalten

Sari Nusseibeh schlägt vor, einen gemeinsamen israelisch-palästinensischen Staat zu gründen. «Es geht um ein Leben in Frieden und Würde für beide Völker. Dafür würde es genügen, Israelis und Palästinenser juristisch gleichzustellen.»

Die Idee ist einleuchtend, aber zurzeit kaum realisierbar – die Wunden, die der Nahostkonflikt schon gerissen hat, sind einfach zu tief. Doch man dürfe sich nicht in gegenseitige Schuldvorwürfe verkrampfen, meint Sari Nusseibeh: «Ich kann nichts tun, um die Vergangenheit zu ändern. Aber ich kann sehr viel tun, um die Zukunft zu gestalten.»

Ein Optimist, allen Rückschlägen zum Trotz

Der gemeinsame israelisch-palästinensische Staat würde nicht nur einen dauerhaften Frieden garantieren, sondern könnte auch als ein Vorbild für Offenheit und religiöse Toleranz gelten – ein utopisches Ziel. Doch Sari Nusseibeh glaubt, dass es erreichbar ist. Er ist allen Rückschlägen in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen zum Trotz ein Optimist geblieben, und hofft auf die Kraft des Dialogs.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 26.2.2015, 16.50 Uhr

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