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Ein syrisches Mädchen vor einer Feuerstelle in einem Flüchtlingscamp in Bulgarien.
Legende: Provisorische Heimat: ein syrisches Mädchen in einem Flüchtlingscamp in Bulgarien. Reuters

Gesellschaft & Religion Wie soll das Flüchtlingslager der Zukunft aussehen?

Es gibt 45 Millionen Vertriebene weltweit, jeder zehnte lebt in Flüchtlingslagern. Diese Camps sind als Provisorien gebaut – dennoch werden sie jahrelang gebraucht. Das ruft Städtebauer und Architekten auf den Plan. Sie überlegen, wie man diese Behausungen auf Zeit menschenwürdiger gestalten kann.

Wer Flüchtlingslager in den Medien sieht, der könnte denken, dass Architekten und Städteplaner seit 60 Jahren schlafen – oder zumindest die Behausung von Flüchtlingen als Aufgabenfeld ignorieren. Denn seit Jahrzehnten sehen wir die immer gleichen Zelte des UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in Reih und Glied stehen. Dabei stellt die Realität ganz andere Anforderungen.

Ein Flüchtlingslager ist heute längst kein Provisorium mehr, sondern steht laut UNHCR durchschnittlich zwölf Jahre lang. Zwölf Jahre in einem Zelt? Das bedeutet eine ganze Kindheit oder Jugend im Zelt, in dem es nach Sonnenuntergang kein Licht mehr gibt für Schulaufgaben. In dem es tagsüber zu heiss und nachts zu kalt ist. Und in dem man nicht einmal aufrecht drin stehen kann.

Viele gute Ideen

Zur Ehrenrettung der Architekten und Städteplaner muss gesagt sein, dass sie sehr wohl über neue Unterkünfte und anders gestaltete Lager nachgedacht haben. Es gibt viele gute Ideen: aufblasbare Behausungen und solche aus Pappe oder Beton.

Sucht man nach Profis, die sich ausschliesslich mit Flüchtlingsunterkünften beschäftigen, stösst man bald auf Tom Corsellis. Er leitet das «Shelter Centre» in Genf, direkt gegenüber dem UNHCR-Hauptquartier. Fragt man Tom Corsellis nach dem guten alten UNHCR-Zelt, ist er zunächst noch voll des Lobes: Unterkünfte aus Beton seien zwar billig, aber zu schwer, und auch eine aufblasbare Behausung sei weder leichter noch billiger als ein Zelt.

Selbst wenn sich Preis und Gewicht senken liessen, bliebe immer noch das Problem, dass gerade am Anfang oft noch kein Strom im Flüchtlingscamp ist, um eine solche Behausung aufzublasen. Mit der menschlichen Lunge würde es Tage dauern. Kurz: Leicht ist es nicht, den Klassiker unter den Flüchtlingsbehausungen abzulösen.

Ein Klassiker wird neu erfunden

Trotzdem gibt es auch Ideen, wie sich die Vorteile des klassischen Zeltes mit den Anforderungen unserer Zeit verbinden lassen. Es sind Entwürfe, die leicht und billig sind wie ein Zelt. Stapelbar und per Luftfracht schnell zu transportieren, aber trotzdem dauerhafter und besser isoliert.

Eine davon entwickelt die Ikea-Foundation. Die Konstruktion ist ähnlich wie beim Zelt, hat aber aufrechte Wände, so dass man sie später mit Lehmwänden verstärken kann. Das Dach ist aus leichtem, gut isolierendem Material mit einem Solarpanel. So kommt Licht in die Behausung.

Das ganze Camp muss sich verändern

Wenn Flüchtlingslager immer länger bestehen, müssen sich nicht nur die Behausungen ändern. Das Camp wird einer Stadt immer ähnlicher und muss auch ähnlich organisiert werden, am besten in Selbstverwaltung. Architekten und Städteplaner wie Manuel Herz von der ETH Zürich sinnen nicht am Schreibtisch über die Flüchtlingscamps der Zukunft nach, sie finden sie in der Realität.

Mehrmals schon ist Herz nach El Ajun, in die Westsahara gereist. Das Lager der Sahauris besteht seit mehr als 30 Jahren, errichtet nachdem ihr bewaffneter Kampf für einen eigenen Staat «Westsahara» gescheitert ist.

Heute ist ihr Lager ein ermutigendes Beispiel, wie Flüchtlinge ihr Schicksal selber in die Hand nehmen: Die Sahauis von El Ajun haben in ihrem Flüchtlingslager schon die Grundzüge eines Staates geschaffen, der noch gar nicht existiert.

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