Das Internet gehört heute zum Alltag. Die Verbreitung der Smartphones ab 2007 war ein weiterer Quantensprung, denn seither kann man das Internet ständig und überallhin mitnehmen. Deshalb wandelt sich das Leben in der Stadt grundlegend. Zum einen führt die Digitaltechnologie zu einem intensiven Austausch, auch unter Leuten ausserhalb des bisherigen Bekanntenkreises, zum anderen sei das Bedürfnis nach realen Erfahrungen gestiegen. Denn die Stunden, die wir an der Arbeit und während der Freizeit vor dem Computerbildschirm oder dem Mobiltelefon-Display verbringen, entbehren der Sinnlichkeit. Daher strebten die Leute vermehrt nach draussen, in den öffentlichen Raum.
Das ist, verkürzt gesagt, die These von Hanno Rauterberg, der als Feuilletonredaktor der «Zeit» hauptsächlich über Architektur, Kunst und Stadtentwicklung schreibt.
Das städtische Leben verändert sich
Beiträge zum Thema
- Essbare Stadt - Maurice Maggis Geheimnis («Kulturplatz», 9.10.13)
- Phänomen «Urban Farming» («Kulturplatz», 23.5.12)
- Schweizer Architekten und Stadtplanung («Kulturplatz», 8.1.09)
- Flashmob («100 Sekunden Wissen», 14.2.13)
- Parkour («Sommer-Challenge», 3.9.13)
- Der Parkour ist die Stadt («SRF Wissen», 8.2.04)
- «Urban Knitting» – Stricken ist wieder in («Treffpunkt», 12.6.13)
Die Veränderungen des städtischen Lebens illustriert Rauterberg durch zahlreiche Beispiele von Aktivitäten, die sich in den letzten Jahren verbreitet haben oder erst in allerjüngster Zeit entstanden sind: «guerilla gardening» beispielsweise, also das wilde Gärtnern auf Grünstreifen an Strassenrändern oder anderen urbanen Brachen; das Einstricken von Brückengeländern oder Ampelpfosten («urban knitting»); die Stadtakrobaten des Bewegungssports Parkour; die sich kurzeitig zu Flashmobs versammelnden Aktivisten. Oder Menschen, die sich zu «urban games» zusammenfinden, etwa um Computerspiele wie Pacman in der Stadt nachzuspielen. Dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt.
Der öffentliche Raum wird neu definiert ...
In solchen Aktionen, die Rauterberg teilweise an den Situationismus der 1960er-Jahre erinnern, werde ein neues Verständnis von Öffentlichkeit und Privatheit sichtbar, ein Neudenken des öffentlichen Raumes.
Wer mit dem Laptop im Café sitzt, verlegt damit das Wohnzimmer oder das Heimbüro in einen halböffentlichen Raum. Er kann auf dem Bildschirm den Grand Canyon durchstreifen, sich gleichzeitig mit Bekannten oder Unbekannten in Oslo, Quito oder Singapur austauschen, einen Kaffee trinken und im Netz Gleichgesinnte finden, die wie er selbst Parkplätze mit Gartenstühlen, Grill und Blumenkisten zu einem Mikro-Park umgestalten wollen.
... und in Anspruch genommen, «Reclaim the city»
Es finde eine eigentliche Neuentdeckung des städtischen Raums statt. Die Menschen eroberten ihn zurück, sie belebten einst öde, aufgeräumte Quartiere, sagt Rauterberg. Er weiss aber auch um die Kehrseiten der heutigen Stadt: die Gentrifizierung, die Privatisierung des Raums in Gestalt von Shopping Malls und «Business improvement districts», Geschäftsbezirken, in denen Geschäftsleute das Sagen haben und die gesäubert seien von Unerwünschtem wie etwa Obdachlosen.
Die jahrzehntelange Bewegung des Hinaus-in-die-Vorstädte, sobald das erste Kind in der Familie zur Welt kommt, habe sich abgeschwächt. Die Stadt werde wieder vermehrt als lebenswerter Raum wahrgenommen. Und genutzt und mitgestaltet. Denn heute entständen mehr «offene Bereiche, in denen nicht alles auf Rendite getrimmt ist, und wo es nicht darum geht, dass hier die richtigen Designer-Mülleimer und -Bänke stehen». In der Stadtplanung nehme die «Fixierung auf Einkaufszonen» ab.
Sind die lustvollen Aktionen nachhaltig?
«Eine Stadt ist Stadt, wenn sie mit sich selbst uneins bleibt», schreibt Hanno Rauterberg. Er insistiert auf die Widersprüchlichkeit des geteilten Raums Stadt, auf gegenläufige Interessen, auf die «Zumutung, die die Stadt auch ist». In Sachen Lärm, in Sachen Verkehr, in Sachen sozialer Probleme.
Ob sich durch die lustvollen und lustigen, oft schnell verglühenden Aktionen die Stadt wirklich verändert? Ob dieser «Urbanismus von unten», wie Rauterberg es nennt, tatsächlich Gewicht haben kann – gegen die Interessen der Wirtschaft und gegen die Denkmuster der bisherigen Stadtplanung? Hanno Rauterberg mahnt zur Geduld, denn das Umdenken, das die Digitalmoderne in den Köpfen vieler Stadtbewohner bereits ausgelöst habe und mehr denn je bewirke, sei ein längerfristiger Prozess.
Grosse Veränderungen starten oft klein
Im Kleinen beginne vieles, was grössere Folgen haben könne. Der promovierte Kunsthistoriker nennt ein in New York entstehendes öffentliches Schwimmbad. Es werde auf dem Hudson River verankert sein, das Flusswasser filtern und die Lage der Stadt am Fluss für die Bevölkerung endlich nutzbar machen. Oder er weist darauf hin, dass vor allem in den USA Menschen unerlaubterweise Fahrradstreifen auf Strassen aufmalten. Die Behörden putzen sie zwar sofort wieder weg, aber bei der einen oder anderen Stadtbehörde reife die Erkenntnis, dass sie vielleicht etwas für den Veloverkehr tun könnte.
Die digitalen User als Ideengeber für ein besseres Leben im «concrete jungle».