Jürgen Todenhöfer
Sie haben zehn Tage mit den Kämpfern des IS verbracht – wer sind diese Leute?
Jürgen Todenhöfer: Es ist eine Mischung. Immer wieder sind es junge Menschen, die im Westen wenig Perspektive haben, schlecht integriert sind. Die haben keinen Job, vielleicht ist grad die Freundin abgehauen und die Wohnung gekündigt worden. Dann brechen sie auf. Beim IS haben sie eine grosse Aufgabe und sie hören, dass die ganze Welt über sie spricht. Die kriegen eine Waffe und werden grösser. Es ihnen egal, dass es an manchen Tagen nichts zu essen gibt. Die haben endlich ein Ziel, sie erobern die Welt. Und sie sind bereit für diese Sache zu sterben. Sie sind gehirngewaschen, völlig fanatisiert – alle die an den IS glauben. Die meisten, die dort hingehen sind begeistert – grauenvoll begeistert.
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Also doch vor allem Verlierertypen aus dem Westen?
Nein, da sind durchaus auch erfolgreiche Leute. Der Letzte, den ich vor Ort gesprochen habe, war ein junger Mann aus der karibischen Gegend. Gut gestylt, schick angezogen, sehr intelligent aussehend. Er erzählte, er habe gerade sein zweites Staatsexamen gemacht und sei als Richter zugelassen. Er wolle jetzt aber lieber für den IS kämpfen, das würde seinem Leben einen Sinn geben. Oder die Leute, die diese Propagandavideos machen, das sind keine Verlierer – das sind leider sensationelle Profis.
Was genau ist das Ziel, für das sie zu sterben bereit sind?
Der IS will das weltweite Kalifat errichten und alle nicht-abrahamitischen Religionen auslöschen – das heisst, alle Religionen, die nicht jüdisch sind, nicht christlich sind. Juden und Christen dürfen leben, sie müssen nur eine Schutzsteuer von etwa 600 Dollar zahlen pro Jahr. Alle demokratischen Muslime im Westen sind Abtrünnige. Die wollen sie töten, weil alle demokratischen Muslime erlauben, dass Menschen Gesetze machen. Diese gehirngewaschenen Leute sagen, nur Gott dürfe Gesetze machen.
Sie reden von der gefährlichsten Terrorbewegung der Geschichte?
Die Mischung aus Fanatikern mit dem militärischen Drill früherer Offiziere Saddam Husseins – das hat es vorher nie gegeben. Diese Leute haben nicht nur Furcht und Schrecken verbreitet, sie haben einen Staat gegründet. Auch wenn dieser Staat natürlich mehr schlecht als recht funktioniert, es ist ein Staat. Der hat ein Gerichtswesen, eine Art medizinische Versorgung, soziale Versorgung, Verkehrspolizei und so weiter. Er erhebt eine Steuer und sieht sich als Staat.
Wie gut ist der IS denn vernetzt?
Es ist kein Netz in dem Sinne. Die einen sitzen in Paris und in Deutschland. Sie kommunizieren über das Internet, aber sie kommunizieren nicht mit der Führung. Die Führung agiert über den Sprecher Al-Adnani. Dieser hat mehrfach alle, die in den Ländern der Ungläubigen leben, aufgefordert: «Schlagt zu, wo ihr könnt.»
Sie kritisieren das Vorgehen des Westens deutlich – das bringt Ihnen wiederum Kritik ein.
Sartre sagte: «Kriege sind ein Bumerang.» Sie kommen als Terror zurück, und wir merken nicht, dass es unsere eigene Gewalt ist, die da auf uns einschlägt. Der IS entstand als direkte Reaktion auf Buschs Einmarsch im Irak 2003. Unsere Überfälle auf die muslimische Welt sind die Ursache dieses Terrorismus. Was wir jetzt in Paris an Schrecklichem erlebt haben, das erlebt die muslimische Welt seit 200 Jahren. Die wurde kolonialisiert, versklavt, ausgebeutet. Hollande, der sich als Held aufspielt, tötet bei fast jedem seiner Luftangriffe Kinder, Unschuldige. Die haben ein Krankenhaus angegriffen, da sind Babys getötet worden. Diese Bilder werden natürlich herumgezeigt. Für jedes dieser Kinder gibt es zehn oder hundert neue Terroristen.
Was schlagen Sie vor?
Die Zauberworte zur langfristigen Bekämpfung des Terrorismus heissen erstens Gerechtigkeit gegenüber der muslimischen Welt. Keine Kriege mehr. Zweitens echte Integration in Europa. Wenn schon denn schon.
Wie ist der IS Ihrer Meinung nach zu stoppen?
Wir müssen den IS Terror ganz kühl bekämpfen. Nicht so wie Hollande es macht, voller Pathos, Kriegsgetöse und Panikmache, alles falsch. Wir müssen dem IS die Zufuhr von Waffen und neuer Kämpfer stoppen. Vor allem müssen wir die zerstrittenen Parteien im Irak und Syrien, die Schiiten und die Sunniten, mit politisch diplomatischem Vorgehen versöhnen. Das ist die einzige und wichtigste Strategie.