Dass wir Dinge bewerten, ist typisch Mensch. Aber wie merken wir eigentlich, was wir gut finden?
Allan Guggenbühl: Das hat mit biologisch geprägten Vorlieben zu tun – gewisse Gerüche, Farben und Formen ziehen uns mehr an als andere. Aber auch die Gesellschaft spielt eine Rolle; sie definiert Symbole der Zugehörigkeit. Angenommen, unter Jugendlichen liegen Mützen im Trend. Dann fühlt sich einer, der eine Mütze trägt, bestimmt attraktiver als der Mützenlose. Er fühlt sich so zugehörig.
Wie entscheiden wir, zu wem wir gehören wollen?
In der Arbeit und Ausbildung werden wir Gruppen zugeordnet, da haben wir keine Wahl. Wer uns sympathisch ist, entscheiden wir spontan. Gewisse Menschen sind uns näher als andere – zum Glück, sonst wären wir gar nicht beziehungsfähig. Abneigung zu hegen, ist nicht abnormal. Wir binden uns nicht an alle Menschen, sondern entwickeln Freundschaften zu ausgewählten Menschen.
Aber warum bewegen wir uns meist unter Gleichen?
Wir gehen unbewusst davon aus: So wie ich bin – das ist normal. Denkt jemand komplett anders, erleben wir das als irritierend, komisch oder faszinierend. Generell tun wir uns am liebsten mit Menschen zusammen, die uns ähnlich sind. Differenzen erlauben wir dann innerhalb gemeinsamer Normen, haben das Gefühl, es gebe gross Unterschiede. Diese bewegen sich jedoch in einem bestimmten Rahmen. In der Politik lässt sich das gut beobachten: Diskussionen innerhalb einer Partei sind kein Problem. Aber zwischen einem SVPler und einem SPler sind die Differenzen oft so gross, dass kein Dialog mehr möglich ist.
Dann sind wir also nur beschränkt tolerant?
Absolut. Der Mensch meint oft, er sei toleranter als er tatsächlich ist.
Warum?
Toleranz in unserer Gesellschaft ein positiv besetzter Wert. Kaum jemand sagt von sich, er sei intolerant. Tolerant zu sein, ist eine gesellschaftlich akzeptierte Eigenschaft – wir müssen uns definieren, wenn wir der Gemeinschaft angehören wollen. Wenn wir zynisch sein wollen könnten wir sagen: Wir gaukeln uns Toleranz vor. Oft spricht man von Multi-Kulti-Quartieren. Natürlich leben da Menschen mit verschiedenen Werten. Sieht man jedoch genauer hin, merkt man, dass die Menschen aneinander vorbeileben.
Wann entstehen denn Konflikte?
Sobald das eigene Leben, vor allem der Privatbereich, tangiert wird, sinkt die Toleranzgrenze. Nehmen wir das Beispiel Flüchtlinge. Aus moralischer Sicht kommt man wohl zum Schluss: Wer flüchten muss, braucht unsere wohlwollende Hilfe, wir sind tolerant. Sind die Fremden dann da, kann es zu Konflikten kommen, weil wir uns ob dem andersartigen Verhalten bedroht fühlen. Die Fremden wiederum sind schmerzlich betroffen, wenn sie ihre Kultur nicht weiterführen können. Besonders heikel ist es, wenn Grundwerte betroffen sind. Angenommen, ein 16-jähriges Muslimmädchen verliebt sich hier in einen Jungen. Die Eltern verbieten ihr den Kontakt, weil sie bestimmen wollen, mit wem sich ihre Tochter einlässt. Bei uns hingegen gilt die freie Partnerwahl. Da prallen zwei verschiedene Vorstellungen aufeinander. Solche Konflikte kann man oft gar nicht lösen.
Auch wenn das Anderssein häufig als bedrohlich eingestuft wird – seit jeher fasziniert es auch.
Ganz klar – das Anderssein löst oft Faszination aus. Wir sind hin- und hergerissen zwischen Abneigung und Anziehung. Diese Ambivalenz drückt sich auch in den Medien aus.
Ein Beispiel?
Die Debatte um Transgender in den USA: In North Carolina wurde Transmenschen verboten, die Toiletten ihres neuen Geschlechts aufzusuchen. Sie dürfen nur in die Toiletten ihres Ursprungsgeschlechts. Gleichzeitig gab es eine Solidaritätswelle, man war entsetzt über die Engstirnigkeit der Menschen, die das Verbot aufgestellt haben.