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Wer trägt in der Schweiz einen Nikab? Eine Begegnung
Aus Kontext vom 14.02.2021. Bild: KEYSTONE / PETER SCHNEIDER
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Gesichtsverhüllung Schweizer Muslimin: «Ich liebe meinen Niqab»

Umm Meryem stammt aus einer säkularen Familie, hat den Islam und später den Niqab für sich entdeckt. Von Unterdrückung oder Fundamentalismus will sie nichts wissen. Ein Porträt.

Ich treffe Umm Meryem in einem islamischen Frauenzentrum. Umm steht im Arabischen für Mutter, Meryem ist ein Pseudonym. Umm Meryem möchte nicht, dass ihr Name oder ihr Wohnort öffentlich bekannt ist. Damit möchte sie ihre Familie beschützen.

Doch sie möchte erklären, weshalb sie sich für einen Gesichtsschleier entschieden hat. Und sie möchte, dass vor der Abstimmung über die sogenannte Burka-Initiative auch mit und nicht nur über Frauen mit Gesichtsschleier gesprochen wird.

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Wie erleben Muslim*innen in der Schweiz die Debatte um die Verhüllungsinitiative?
Aus Forward vom 10.02.2021.
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Umm Meryem trägt ein weites, rosafarbenes Gewand, dazu den passenden Niqab. Zum Gespräch zieht sie ihn allerdings aus: Im geschützten Rahmen des Frauenzentrums und mit einer Journalistin geht das.

«Ich liebe meinen Niqab», stellt Umm Meryem klar. Und: «Ich habe mich absolut aus freien Stücken dafür entschieden.»

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Gesichtsschleier
aus 100 Sekunden Wissen vom 15.02.2021. Bild: SRF / Sebastien Thibault
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Als junge Frau den Islam gefunden

Aufgewachsen ist Umm Meryem in einer religionsfernen Familie mit römisch-katholischem Hintergrund. Der Religionsunterricht langweilte sie.

Als Jugendliche entschied sie sich bewusst, aus der Kirche auszutreten: «Ich wollte keiner Religion mehr angehören. Sie war mir viel zu negativ behaftet. Gläubig war ich schon, aber auf eine ganz persönliche Art.»

Nikabträgerin mit rosarotem Gewand vor gemusterter Wand
Legende: Umm Meryem (Name geändert) hat sich eigenständig zum Tragen des Niqabs entschieden. Léa Burger

Das änderte sich, als sie anfangs 20 in die Palästinensergebiete reiste, um einen Kibbuz zu besuchen. Fasziniert war sie dann aber vor allem von Musliminnen und Muslimen: «Sie waren so stolz auf ihre Religion», erzählt Umm Meryem.

Also begann sie sich mit dem Koran zu beschäftigen und fand Antworten auf viele Fragen, die sie schon lange beschäftigten – etwa, wie man reagieren soll, wenn einem etwas Böses angetan wird. «Im Koran steht, du kannst gleichermassen zurückgeben oder noch besser, du kannst die Tat verzeihen. Da ging mein Herz auf. Ich wusste, ich hatte keine Wahl.»

Vom Kopftuch zum Gesichtsschleier

Umm Meryem konvertierte schliesslich an der Al Hazar-Universität in Kairo und wurde offiziell Muslimin. Zunächst wollte sie kein Kopftuch tragen. Aber kurz nach ihrer Konversion war Ramadan.

Aus Respekt gegenüber ihren Mitmenschen trug Umm Meryem dennoch ein Kopftuch – und wollte es nach dem Ramadan nicht mehr ablegen. «Das war ein völlig emotionaler Entscheid, es fühlte sich einfach richtig an», erinnert sie sich zurück.

Den Wunsch, einen Niqab anzuziehen, entwickelte sich erst mit der Zeit. Zentral für ihre Entscheidung war das Verhältnis zu Männern: Umm Meryem wollte sich abgrenzen vom anderen Geschlecht.

«Männer sind so geschaffen, dass sie Frauen schön finden», findet Umm Meryem und ergänzt: «Sie haben meinen Wunsch nach Distanz nicht akzeptiert. Das ist jetzt, mit dem Niqab, viel besser.»

Diese Abgrenzung vom männlichen Geschlecht ist typisch für Frauen, die in Europa den Niqab tragen. Das zeigen verschiedenste Studien, die der Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti in seinem neuen Buch «Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz» zitiert.

Der Niqab ist aber auch Ausdruck einer sehr wörtlichen Auslegung des Korans, die sich an den Verhältnissen im 7. Jahrhundert nach Christus orientiert. Damals entstand der Islam. Die Befürworter des sogenannten Burka-Verbots sehen im Niqab einen fundamentalistischen Islam ausgedrückt.

Davon will Umm Meryem aber nichts wissen: «Ich bin nicht fundamentalistisch, genauso wenig wie andere Frauen, die einen Niqab trägen. Salafismus, Wahhabismus – das sind neue Erfindungen, mit denen ich mich nicht identifizieren kann.»

Zwischen Offenheit und festen Prinzipien

Den Vorurteilen will die Mitte 30-Jährige etwas entgegenhalten. Sie plädiert für eine offene Gesellschaft, die unterschiedliche Weltbilder toleriert und respektiert. Dass sie selbst mit dem Gesichtsschleier einen anderen Eindruck vermittelt, sei ihr durchaus bewusst:

«Aber letzten Endes drückt sich jeder Mensch durch seine Kleidung aus. Ok, ich falle auf und wirke fremd, dass kann ich nachvollziehen. Aber anderes fällt auch auf und vielleicht ist es irgendwann normal.»

Ich habe mich absolut aus freien Stücken für den Niqab entschieden.

Umm Meryem anerkennt auch den freien Willen und die freie Entscheidung eines Menschen, etwa ihrer Kinder. Gleichwohl wünscht sie sich, dass sie einst die Religion gleich ausleben werden wie die Eltern. «Wenn sie sich für einen anderen Weg entscheiden, wäre das die schlimmste Prüfung für mich», stellt die mehrfache Mutter fest.

Während des einstündigen Gesprächs spricht Umm Meryem immer wieder voller Begeisterung über ihre Religion. Ich erlebe sie als Person mit festen Prinzipen, für die sie selbstbewusst und argumentier freudig einsteht, aber auch als zugängliche und aufgeschlossene Frau.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 14.02.2021, 17:58

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