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Gespanntes Verhältnis «Russland muss aufhören, die Ukraine als kleinen Bruder zu sehen»

Am 25. Januar 1918 erklärte sich die Ukraine für unabhängig. Die Bolschewiki beendeten diesen Zustand 1921 mit Waffengewalt. Im Dezember 1991 erfolgte die zweite Unabhängigkeitserklärung. Ein Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Andreas Kappeler über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine – und deren Zukunft.

SRF: Wie viele andere Gebiete der zerfallenden Sowjetunion entschied sich die Ukraine 1991 für die Unabhängigkeit. Wann begannen die Schwierigkeiten zwischen der Ukraine und Russland?

Andreas Kappeler: Spannungen waren von Anfang an da. Das erste Problem war die Zugehörigkeit der Krim, wo die sowjetische Schwarzmeerflotte lag. Nach langen Verhandlungen kam man 1997 zu einem Kompromiss: Beide Staaten anerkannten vertraglich die gegenseitigen Grenzen, auch die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine.

Der zweite Punkt ist, dass sich die russische Gesellschaft und Politik nicht mit der Unabhängigkeit der Ukraine abfanden. Man nahm den ukrainischen Staat nicht ernst, sah die Ukraine nicht als gleichwertige Nation. Diese Asymmetrie, die seit dem 19. Jahrhundert besteht, ist bis heute das Hauptproblem.

2004 wurde der von Russland unterstützte Kandidat Janukowitsch nach einer gefälschten Wahl Präsident der Ukraine. Darauf kam es zur «Orangen Revolution»: Eine Volksbewegung für den Gegenkandidaten Juschtschenko erzwang die Wahlwiederholung. Nun siegte Juschtschenko, und die Ukraine orientierte sich stärker nach Westen, wollte sich der EU annähern und der NATO beitreten. Das barg reichlich Konfliktstoff.

Andreas Kappeler: 2004 ist eine wichtige Wasserscheide. Die Orange Revolution führte auch Russland vor Augen, dass eine Volksbewegung gegen Wahlfälschung Erfolg haben kann.

Anhänger von Juschtschenko protestieren.
Legende: Anhänger von Juschtschenko in Kiew, kurz nachdem die Wahl von Janukowitsch als ungültig erklärt wurde. Getty Images

Für den russischen Präsidenten Putin war das eine Warnung, dass das auch in Russland passieren könne, wo die Wahlen auch nicht immer regulär verliefen. Im Inland hatte Putin 2004 seine Stellung stabilisiert. Russland erholte sich wirtschaftlich und wurde wieder zu einer grossen Macht. Juschtschenko aber wollte die Ukraine an den Westen anbinden. 2004 erweiterten sich die EU und die NATO nach Osten, was Russland mit Argwohn beobachtete.

Sie schreiben, Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko hätten ihren politischen Kredit verspielt und Machtkämpfe ausgetragen, statt die dringenden Reformen anzupacken. Davon profitierte Putins Favorit Janukowitsch, der 2010 dann doch ukrainischer Präsident wurde. Welchen Kurs schlug das Land ein?

Andreas Kappeler: Janukowitschs Wahl war für Präsident Putin ein grosser Erfolg. Die Ukraine und Russland näherten sich an. Und Janukowitsch nahm Russland als Vorbild und regierte die Ukraine autoritärer, schaltete seine politischen Gegner aus. Seine Gegenkandidatin Julia Timoschenko wurde ins Gefängnis gesteckt. Die Tür zu Europa wurde dennoch nicht zugeschlagen. Die Verhandlungen mit der EU wurden auch unter Janukowitsch weitergeführt.

Timoschenko am Reden.
Legende: Timoschenko, Janukowitschs Gegenkandidatin, musste ins Gefängnis. Sie wurde wegen Amtsmissbrauchs verurteilt. Reuters

2013 wollte die Regierung ein Abkommen mit der EU unterzeichnen. Russland pfiff sie zurück. Deswegen kam es Ende November zu Massenprotesten auf dem Kiewer Majdan-Platz, die der Staat brutal, aber vergeblich unterdrückte. Präsident Janukowitsch floh nach Moskau, das Parlament setzte ihn ab. Im März 2014 wurde das Abkommen mit der EU schliesslich doch unterschrieben. Haben die «Euro-Majdan»-Proteste die bewaffneten Konflikte ausgelöst?

Andreas Kappeler: Nein. Das bewaffnete Eingreifen Russlands, also die Besetzung und Annexion der Krim und die Unterstützung der Rebellen im Donbass, muss man von den Geschehnissen in Russland her interpretieren. Natürlich hat der Majdan die Voraussetzungen dafür geschaffen. Der Majdan war noch stärker als die Orange Revolution ein Fanal für Putin. Es ging ja nicht nur um die engere Anbindung an Europa, sondern der ukrainische Präsident wurde gestürzt. Russland hat die Krim ja wenige Tage nach Janukowitschs Flucht besetzt.

Eine Frau am Protestieren.
Legende: Die Proteste Ende 2013 auf dem Kiewer Majdan-Platz wurden brutal, aber vergeblich vom Staat unterdrückt. Reuters

Dass die stärkere Orientierung der Ukraine nach Westen für das Eingreifen Russlands eine Rolle gespielt hat, lässt sich aber nicht leugnen. Für Russland war es eine unangenehme Vorstellung, dass ausser den im Baltikum und in Südosteuropa ohnehin expandierenden EU und NATO nun auch die Ukraine in diese «Einkreisung» einbezogen werden könnte. Das hat zweifellos in Moskau Misstrauen und Angst vor einem Verlust der Grossmachtstellung geweckt.

Ein Fahnundsfoto von Janukowitsch auf einem Auto.
Legende: Nach dem Blutbald auf dem Maidan floh Präsident Janukowitsch. Reuters

Welche Zukunftsperspektiven sehen Sie für die Ukraine, gerade in Anbetracht dieser Sandwichposition zwischen dem Westen und Russland?

Andreas Kappeler: Dieser Krieg in Europa hat das Verhältnis zu Russland und zur Ukraine fundamental verändert. Die Beziehungen des Westens und der Ukraine zu Russland sind nachhaltig beschädigt. Das ist kein wünschenswerter Zustand. Dieses Verhältnis muss normalisiert werden. Russland muss akzeptieren, dass die ukrainische Bevölkerung mehrheitlich eine Anbindung an Europa fortsetzen will. Und es muss sich davon lösen, die Ukraine als zweitrangigen Vorhof, als kleinen Bruder, zu betrachten.

Der Ukraine selber steht ein steiniger Weg bevor. Die Entwicklung im Inneren ist alles andere als erfreulich: wirtschaftliche Probleme, schleppende Reformen und der Krieg, der, so befürchte ich, Jahrzehnte dauern wird. Das kleinste Übel wäre ein sogenannter «frozen conflict», ein Krieg, der stillgelegt ist. Aber eine Lösung sehe ich in nächster Zeit nicht.

Sendung: Radio 2 Kultur, Kontext, 23.1.2018, 9.00 Uhr.

Zur Person

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Andreas Kappeler, geboren 1943, studierte in Zürich und Wien Geschichte, Slawistik und Publizistik, war Professor für Osteuropäische Geschichte in Köln und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2011 an der Universität Wien. Als einer der ersten deutschsprachigen Historiker beschäftigte er sich seit den 1980er-Jahren mit der Ukraine.

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