Blumentöpfe bemalen oder Mobiles machen: Vor lauter DIY-Videos und Instagram-Posts könnte man denken, die Coronakrise sei für Eltern und Kinder ein Fest der Kreativität. Das müsste auch die Lehrerinnen und Lehrer freuen, die in normalen Zeiten Gestalten unterrichten. Tut es aber nicht unbedingt.
Basteln sei etwas Tolles, sagt Verena Widmaier, Präsidentin des Verbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer Bildnerische Gestaltung (lbg): «Wenn es frei geschieht, aus eigenem Anstoss.» Aber: «Basteln als Beschäftigungstherapie für die gesamte Kindheit in Zeiten von Corona – das ist ein Horror.»
Bei Schritt-für-Schritt-Anleitungen à la «Mach aus der WC-Rolle dieses Kätzchen oder diesen Schmetterling» gehe alles verloren, was bei Kindern den eigenen Ausdruck und die Kreativität herausfordere. Das sei keineswegs ein Ersatz für das, was schulisches Gestalten vermitteln könne oder wolle.
Kaum Material, kein Konzept
Gestalterische Fächer aus der Ferne zu unterrichten sei schwierig, sagt Verena Widmaier. Denn Zeichnen, Werken und Handarbeit sind sehr haptische Fächer. Sie brauchen Materialien zum Anfassen und einen regen Austausch.
Komme erschwerend dazu, sagt Widmaier, dass es keine verbindlichen Vorgaben oder gar ein Konzept gebe, wie und ob die Schulen Fächer wie Bildnerisches, Textiles und Technisches Gestalten aktuell anbieten sollen.
Zwar gilt es wie in allen Fächern die Lehrplan-Ziele zu erreichen, erklärt Widmaier. Über das Angebot während der Corona-bedingten Schulschliessung entscheide aber die Klassenlehrperson und die Schulleitung, die meist aus anderen Fachbereichen kommen. «Wir stellen fest, dass Fächer, die einfach zu unterrichten sind, etwa Mathematik oder Deutsch, oft den Vorzug erhalten.»
Die Marginalisierung der gestalterischen Fächer, die bereits vor der Krise bestand, setze sich also fort. Von den Lehrpersonen, die sie unterrichten, erfordere das «viel aktives Einmischen».
«Alles ist nun Experiment»
Lehrerinnen und Lehrer müssen sich also etwas einfallen lassen. Die Schwierigkeit: «Man kann eigentlich nichts voraussetzen», sagt Rahel Sacher, die an der Sekundarschule Sissach (BL) Bildnerisches und Technisches Gestalten unterrichtet.
Zu Beginn des Fernunterrichts hätte sie die Idee gehabt, ein Gefäss aus Schnur herzustellen – ein Material, von dem sie dachte, das es alle zuhause hätten. Nur: Dem war nicht so. Und eine Woche später schloss die Migros die Abteilung mit der Schnur.
So müsse man ständig improvisieren. «Manchmal muss man auch seine pädagogischen Ansprüche etwas herunterschrauben. Aber Hauptsache, es findet eine Form von gestalterischer Auseinandersetzung statt», sagt Rahel Sacher.
Mehr Freiheiten
Dafür komme die Situation einer zentralen Forderungen des Lehrplan21 entgegen: dem starkem Lebensbezug. «Es ist jetzt alles Experiment und alles Lebensrealität.»
Dass Struktur wegfalle, habe für ihre Fächer auch etwas Befreiendes, sagt Rahel Sacher: «Im Normalfall gibt es so viele Vorschriften. Du arbeitest immer auf ein Produkt hin, weil ein Prozess schwer zu bewerten ist. Wenn nun die Noten wegfallen, ist mehr Raum für Experimente.» Sie hoffe, dass sie das auch für die Zeit nach Corona mitnehmen könne.
Die Krise als Chance
Auch Verena Widmaier sieht in der Corona-Krise eine Chance für das, was der Bereich Gestalten vermitteln will: Kreativität, ästhetische Erfahrung, Anregung für die Bildfindung und nonverbale Kommunikation.
So könne man etwa «aus der Langeweile heraus erfinderisch werden». Oder in der Natur die Wahrnehmung schärfen. «Vielleicht sind die Kinder, wenn sie zurück in der Schule kommen, offener fürs Gestalten.»