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Gesellschaft & Religion «Gewalt gegen Kinder gab es auch in evangelischen Heimen»

Gewalt und sexuelle Übergriffe in katholischen Heimen sind bekannt. Von Missständen sind aber auch evangelische Heime betroffen. Die Historikerin Christine Luchsinger untersucht die Geschichte der pädagogischen Institutionen der Stiftung «Gott hilft».

Frau Luchsinger, ist es in den Kinder- und Jugendheimen der Stiftung «Gott hilft» regelmässig zu Gewaltanwendung gegenüber Kindern und Jugendlichen gekommen?

Christine Luchsinger: Das ist abhängig vom Zeitraum, den man betrachtet. In der Gründungszeit während des Ersten Weltkriegs, aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, waren Gewaltanwendungen wie etwa Körperstrafen üblich. Kinder wurden damals ja auch zuhause von den Eltern geschlagen, das war bis zu einem gewissen Grad gängige Praxis. Inwiefern Gewalt in den Heimen von «Gott hilft» das übliche Mass überschritten hat und es zu eigentlichen Schlägereien oder demütigenden, harten Prügelstrafen gekommen ist, das ist schwer abzuschätzen. In den schriftlichen Quellen findet sich dazu nichts. In Interviews mit ehemaligen Kindern hört man Eindrückliches dazu.

Zur Person

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Christine Luchsinger ist selbständige Historikerin. Sie untersucht die pädagogische Arbeit in den Kinder- und Jugendheimen der Stiftung «Gott hilft» im Hinblick auf deren 100-Jahr-Jubiläum im Jahr 2016. Christine Luchsinger hat bis Anfang 2014 den Zentralbereich Kinder- und Jugendhilfe im Zürcher Amt für Jugend und Berufsberatung geleitet.

Zum Beispiel?

Bettnässer sollten mit Prügelstrafen oder mit anderen demütigenden Strafen – zum Beispiel Waschen der Bettwäsche am Dorfbrunnen – von ihrem Bettnässen abgehalten werden. Einzelne Erziehungspersonen wurden als sadistisch bezeichnet, weil sie Kinder vor allen anderen Kindern auf den nackten Po geschlagen haben.

Sind Ihnen sexuelle Übergriffe in Institutionen von «Gott hilft» bekannt?

In einem Interview wurde das bisher geäussert. Es betrifft eine Person, die zehn Jahre lang dort arbeitete. Ihre Übergriffe wurden offenbar nachträglich bekannt, dann intervenierte die Stiftung. Aus den schriftlichen Quellen geht das nicht hervor.

Wie unterscheiden sich in Ihren Augen die Missstände von jenen in katholischen Heimen?

Das kann ich nicht genau sagen. Auch hier wurden Kinder eingesperrt in dunklen Räumen, sie wurden gedemütigt und körperlich gezüchtigt. Es gab diese Verklemmtheit bezüglich der Sexualität, das gab es alles auch in den reformierten Heimen. Ein Unterschied mag gewesen sein, dass sich die Mitarbeitenden in der Stiftung «Gott hilft» freiwillig für diese Aufgabe meldeten, während die katholischen Schwestern und Patres abbeordert wurden. Den Unterschied zu katholischen Heimen müsste man aber sehr detailliert untersuchen.

Hat die Kontrolle des Staates versagt?

Ja, sie hat eindeutig versagt. Der Staat, sprich die Kantone, haben erst sehr spät überhaupt Rechtsgrundlagen geschaffen, die eine Aufsicht über die Heime verlangten. Erklären lässt sich das nur mit einem massiven Desinteresse des Staates an den versorgten Kindern.

Wann hat die Kontrolle eingesetzt?

Die Kontrolle über Kinderheime hat im Kanton Graubünden 1955 eingesetzt. Dort befanden sich die meisten Heime der Stiftung «Gott hilft».

Auf welche Grundlagen stützen Sie sich bei Ihrer Untersuchung?

Ich verwerte schriftliche Quellen aus dem Archiv der Stiftung «Gott hilft». Das sind offizielle Quellen wie Jahresberichte, Mitteilungen, Mitteilungsblätter, die sich die Hauseltern gegenseitig schicken mussten oder Stiftungsratsprotokolle. Dann gibt es weniger offizielle Quellen wie einzelne Tagebücher oder einzelne Korrespondenzen, die aber nicht systematisch aufbewahrt worden sind. Sämtliche Dossiers über die Kinder fehlen, die sind nicht mehr vorhanden. Deshalb werde ich zusätzlich mehrere Interviews mit Ehemaligen führen.

Die Kinderdossiers wurden vernichtet?

Ja, nach Aussagen der heutigen Stiftungsleitung wurden sie vom Datenschützer des Kantons Graubünden aufgefordert, diese Dossiers zu vernichten.

Mit welcher Begründung?

Schutz der Persönlichkeitssphäre. Heute würde man das nicht mehr so handhaben.

Persönlichkeitsschutz oder historische Aufarbeitung: was gewichten Sie höher?

Menschen, die einen Teil ihrer Kindheit in einer Institution verbracht haben, sollten bis zu ihrem Lebensende die Möglichkeit haben, ihre Akten einzusehen. Historiker sollten diese Akten ebenfalls einsehen können – sie sind ja meist an den «grossen Linien» interessiert und sowieso verpflichtet, verantwortungs- und respektvoll mit Personendaten umzugehen.

Melden sich ehemalige Heimkinder bei Ihnen?

Bei mir nicht. Sie melden sich bei der Stiftung. Im Jahr 2010, als die Stiftung in den negativen Schlagzeilen war, hat sie eine Hotline installiert. Da haben sich einige gemeldet.

Wie beurteilen Sie generell die Aufarbeitung der Missstände in Schweizer Heimen?

Die katholischen Heime haben den Prozess begonnen. Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen macht ihn vermehrt zum Gesprächsthema. Meine grosse Hoffnung ist, dass man nicht nur die Missstände thematisiert, sondern auch, warum Kinder fremdplatziert werden und wurden, welche Kinder es betraf und was es für Kinder bedeutet, fremdplatziert aufzuwachsen.

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