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Glaube und Gehirn «Spiritualität ist tief in unserem Nervensystem verankert»

Warum sind Menschen religiös? Harvard-Forscher Michael Ferguson will die Antwort gefunden haben: in einer Ecke unseres Gehirns.

Der älteste Teil des menschlichen Gehirns ist ein Areal im Hirnstamm. Es heisst «Periaquäduktales Grau». Michael Ferguson und sein Team der Harvard-Universität wollen herausgefunden haben, dass dieses Hirnareal für unsere Spiritualität verantwortlich ist.

Das Ergebnis hat die Forschenden überrascht. Michael Ferguson sagt: «Ich hatte bisher angenommen, dass Spiritualität eher in äusseren und evolutionär gesehen jüngeren Bereichen des Gehirns verortet werden könne.»

Zu sehen, dass Spiritualität tief in unserem Nervensystem verankert zu sein scheint, habe seine Sichtweise auf Spiritualität verändert. Was dieses Ergebnis genau bedeutet, möchte er nun noch weiter erforschen.

Veränderte Spiritualität nach einer Operation

Ferguson und sein Team wollten für ihre Forschung langlebige Strukturen im Gehirn aufzeichnen. Dafür haben sie Menschen zu ihrer Spiritualität befragt, kurz bevor sie sich einer Gehirnoperation unterziehen mussten.

Die gleichen Fragen haben sie ihnen nochmals nach der Operation gestellt. Bei gewissen Patienten und Patientinnen habe sich die Spiritualität durch die Operation verändert. Und zwar bei denjenigen, deren Operation entweder direkt oder indirekt das Periaquäduktale Grau betraf.

Daraus schliesst Michael Ferguson: «Wenn das Periaquäduktale Grau in irgendeiner Weise beschädigt wird, sinkt gemäss unseren Forschungsergebnissen die Spiritualität der Person.»

Wechselseitige Beziehung

Das Periaquäduktale Grau ist zudem verantwortlich für die Angst- und Schmerzregulierung, aber auch für den Altruismus eines Menschen, sagt Ferguson. Spannend sei auch zu sehen, welche Teile des Gehirns in einer Anti-Korrelation zum Periaquäduktalen Grau stehen.

Zum besseren Verständnis: Unser Gehirn funktioniert in sogenannten «Push-Pull»-Vorgängen. «Wenn ein Teil des Gehirns aktiver wird, geht die Aktivität in einem anderen Teil des Gehirns zurück», erklärt Ferguson.

Die Forschenden haben herausgefunden, dass jenes Netzwerk, das mit Rationalität und Logik zu tun hat, in einer solchen Anti-Korrelation zum Periaquäduktalen Grau stehe. Wenn nun also die Spiritualität einer Person zurückgeht, vermutet Michael Ferguson, «dass ein Mensch in dem Fall neu stärker rational orientiert durch die Welt geht und seine Erfahrungen weniger spirituell oder intuitiv deutet.»

Dieses Ergebnis bedeute nun aber nicht, dass Rationalität und Spiritualität Gegensätze seien, sondern sie ständen in einer Art Balance zueinander, so Ferguson: «Aus neurowissenschaftlicher Sicht kann man sagen, dass Spiritualität und Rationalität in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen.»

Mit Mysterien leben lernen

Dies sind lediglich ein paar kleine Einblicke in die noch junge Forschung von Michael Ferguson. Der Blick ins Gehirn bietet uns noch keine klaren und definitiven Antworten.

Der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Thomas Südhof hat einmal gesagt, dass wir momentan maximal fünf Prozent der Vorgänge in unserem Gehirn verstehen. Die Neurologie steckt noch in den Kinderschuhen.

Michael Ferguson von der Harvard-Universität kann also momentan nur spekulieren, wenn er die Ergebnisse seiner Forschung interpretiert. Er meint aber auch: «Wir müssen lernen damit umzugehen, dass es immer ungelöste Mysterien geben wird.»

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 17.10.2021, 8:30 Uhr

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