Martin Scorseses Film «Silence» basiert auf einem Klassiker der japanischen Literatur mit dem gleichen Titel. Geschrieben hat ihn Shūsaku Endō, ein in Japan bekannter Autor. Der Schweizer Jesuit Bruno Brantschen hat den Roman gelesen.
SRF: Was hat das Buch mit Ihnen gemacht?
Bruno Brantschen: Der Roman hat mich persönlich sehr berührt, vor allem auch im Hinblick auf meine Geschichte als Jesuit. Als gläubiger Mensch habe ich mit Bangen auf den jungen Jesuiten Rodrigues im Roman geschaut, der mit dem Glauben ringt.
Er, der mit der Absicht nach Japan reist, seinen Glauben und seine Kirche zu verteidigen. Wie er dann zu zweifeln beginnt und in eine Glaubenskrise gerät, das ist im Roman eindrücklich beschrieben.
Rodrigues ist bereit, den Märtyrertod zu sterben. Doch nicht er wird gefoltert, sondern die japanischen Christen, die ihn verstecken. Er kann die Qualen der Gläubigen beenden, wenn er dem Glauben abschwört. Das ist eine schwere Prüfung.
Das ist der Moment, in dem seine Überzeugungen ins Wanken geraten. Denn Gott schweigt! Das ist das Schwierigste für ihn, dass Gott diese Grausamkeit zulässt. Wird Rodrigues in seinem Innersten, dem, was ihn in seinem Glauben trägt, gebrochen? Das ist die Kernfrage für mich.
Wie interpretieren Sie denn das Schweigen Gottes im Roman?
Nun: Gott ist nicht einfach. Gott ist kein «deus ex machina», der von irgendwo heruntersteigt und ins Schicksal der Menschen eingreift. Gott lässt den Menschen ganz viel Freiheit, auch in der Entscheidung, anderen Gewalt anzutun.
Rodrigues bricht mit seiner Überzeugung, um das Leid der Christen zu beenden. Er tritt – und das ist für mich eine schmerzliche und zugleich trostvolle Szene – mit den Füssen auf das Bild mit dem Antlitz Jesu. Und da vernimmt er dessen Stimme: «Tritt nur auf mich. Um von euch getreten zu werden und eure Schmerzen zu teilen, bin ich in diese Welt geboren.» Rodrigues fällt formell vom Glauben ab – und wird selbst zum Judas. Doch gerade dieser Moment wird für ihn zur tiefen Gotteserfahrung.
Gott lässt den Menschen ganz viel Freiheit, auch in der Entscheidung, anderen Gewalt anzutun.
Er verliert seine Überheblichkeit gegenüber denen, die im Glauben schwach werden und abschwören. Er findet die Liebe zu einem Gott, der mit dem Scheiternden bis ins Letzte solidarisch ist. Im Nachhinein erkennt Rodrigues: Gott hat nicht geschwiegen.
Dann würden Sie sagen, Rodrigues tut gut daran, dem Glauben abzuschwören, um das Leiden zu beenden?
(Lacht.) Das ist eine heikle Frage. Ich habe auch mit meinen Mitbrüdern schon darüber diskutiert und kann nicht mit Ja oder Nein antworten. Im Falle von Rodrigues: Ja. Das blinde Festhalten an Überzeugungen ist kein guter Weg. Und der Roman «Schweigen» ist für mich eine Absage an ein fanatisches Glaubensverständnis.
Auf der anderen Seite glaube ich aber, dass Menschen, die in totalitären Systemen für ihre Überzeugung geradestehen und zu Märtyrern werden, anderen Menschen Kraft geben, für Würde und Freiheit einzustehen. Einfach dadurch, dass sie sich nicht brechen lassen.
«Schweigen» ist auch ein Buch über den Zweifel. Ist es etwas, das Sie als Jesuit kennen?
Der Zweifel gehört zu einem glaubwürdigen Glaubensleben. Deshalb ist dieser Roman für mich zutiefst menschlich. Denn er verurteilt Menschen, die schwach werden, nicht. Der Zweifel, das kritische Befragen von Glaubenserfahrungen, ist also ein wichtiger Bestandteil der jesuitischen Spiritualität.
Die Jesuiten haben, was den Zusammenprall von Kulturen und Religionen betrifft, durch die Missionstätigkeit viel Erfahrung. Was macht man mit diesem Erbe heute?
«Mission» hat heute einen negativen Beigeschmack. Dies, weil die Missionsarbeit in der Vergangenheit oft Hand in Hand ging mit Eroberungen, auch in Japan. Entsprechend war die Botschaft damals oft: Wir bringen die Wahrheit und ihr habt sie zu schlucken. Doch: Eine Religion wie das Christentum, die Gott als die Liebe predigt und zugleich Intoleranz verbreitet, ist ein Widerspruch in sich.
Der Zweifel gehört zu einem glaubwürdigen Glaubensleben.
Die Begegnung mit anderen Kulturen darf keine Einwegkommunikation sein. Die Verkündigung des Glaubens kann nur im Dialog geschehen. Das Christentum setzte heute auf den Dialog.
Er ist die einzige Alternative zu Gewalt und Intoleranz. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass im Gespräch mit anderen Religionen auch mein eigener Glaube reicher und tiefer wird.
Gehört «Schweigen» von Shūsaku Endō zur Pflichtlektüre für Jesuiten?
Ja, unbedingt. Das Buch ist Teil unserer Geschichte, da es sich mit dem Leiden der Christen im Japan von damals auseinandersetzt.
Es ist ein Thema, das heute wieder aktuell ist. Gerade da, wo Kulturen und Religionen sich begegnen, darf kein Fanatismus sein. Fanatismus in religiöser Hinsicht ist fatal. Und deshalb ist dieses Buch lesenswert.
Das Gespräch führte Esther Schneider.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 28.02.2017, 17:06 Uhr