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Ágnes Heller gestorben Sie hatte keine Angst vor der Freiheit

Die ungarische Philosophin Ágnes Heller hat den Holocaust und den Stalinismus hautnah miterlebt. Bis zuletzt kämpfte sie für mehr Freiheit. Nun ist sie im Alter von 90 Jahren gestorben.

Nur durch Zufall habe sie überlebt, erinnerte sich Ágnes Heller im Gespräch vor zwei Jahren.

Es war im Winter 1944. Damals war sie 15 Jahre alt. Zusammen mit ihrer Mutter und anderen Jüdinnen und Juden wurde sie aus dem Budapester Ghetto ans Ufer der Donau getrieben. Ein Erschiessungskommando erwartete sie.

Hinter ihrem Rücken standen die antisemitischen Pfeilkreuzler, ungarische Verbündete der Nazis. Die Gewehre im Anschlag. Ágnes blickte starr auf das vorbeiziehende Wasser der Donau und wartete auf ihren Tod.

Nur der Tod der anderen ist schlimm

Doch die Aktion wurde abgebrochen. Warum, das wusste sie nicht. Das Erlebnis aber hinterliess traumatische Spuren: Noch Jahre später zog sie das Wasser der Donau magisch an, immer wieder wollte sie hineinspringen.

Erstaunlicherweise hätte sie damals an der Donau die Angst vor dem Tod verloren, meinte die Philosophin. Für immer. Die eigene Sterblichkeit hätte sie danach nicht mehr bewegt.

Der Tod sei nur schlimm, wenn er andere treffe, Freunde und Verwandte. Ágnes Heller wusste, wovon sie sprach. Ihr Vater war in Auschwitz getötet worden.

Von einer Hölle zur nächsten

Der Holocaust, das sei die «erste Hölle» gewesen, erinnerte sich die Jahrhundertzeugin. Kurz danach folgte die zweite: der Stalinismus.

Heller sympathisierte zunächst mit dem Kommunismus: 1947 trat sie der Kommunistischen Partei bei und wurde später auch Schülerin und Assistentin des marxistischen Philosophen Georg Lukács.

Mehr Freiheit, Demokratie und Bürgerrechte

Doch am 23. Oktober 1956, heute der Nationalfeiertag in Ungarn, wurde sie Teil eines Ereignisses, das ihr Leben von Grund auf veränderte: Das Volk erhob sich gegen das sowjetische Regime.

Es kam zum Volksaufstand, zum Kampf für mehr Freiheit, Demokratie und Bürgerrechte. Dieser Moment habe sie politisiert, erinnerte sich Ágnes Heller. Die Revolution sei zwar gescheitert, aber der Geist der Freiheit blieb dennoch lebendig.

Wer hat Angst vor der Freiheit?

Bis zuletzt kämpfte die engagierte Denkerin, aus Liebe zur Freiheit – eine Freiheit, vor der sich heute immer mehr Menschen fürchten. Sie haben Angst vor der Globalisierung, Angst vom Fortschritt abgehängt zu werden. Also sehnen sie sich nach Abschottung, nach starken Führern und den guten alten Zeiten.

Auch in Ungarn, das Ministerpräsident Viktor Orban in eine Diktatur verwandle, sagte die Philosophin. Sein Ziel? Macht, reine Macht, nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck. Auch der völkische Nationalismus, ebenso wie der Fremdenhass, seien bloss Instrumente, um die eigene Popularität zu steigern – Ideologien zur Vermehrung der Macht.

Ágnes Heller selbst hielt sich fern von ihr, der Macht. Sie meinte, Philosophen hätten in der Politik nichts zu suchen. Wenn sie sich politisch einmischte, dann als Bürgerin, nicht als Philosophin.

Buchhinweis

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Ágnes Heller: «Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir uns wünschen?» Edition Konturen, 2016.

Wir brauchen Dystopien, keine Utopien

Die Philosophen und ihre Utopien, davon hielt Heller nicht sonderlich viel. Zu viele Grausamkeiten hatte sie erlebt, die im Namen des Guten begangen wurden. Viel hilfreicher als Utopien seien Dystopien, so die provokante These ihres Buches «Von der Utopie zur Dystopie».

Schreckensszenarien könnten uns davon abhalten, in eine falsche Richtung zu gehen, auch wenn wir die richtige nicht kennen. Eine Behauptung, die aufhorchen lässt, zumal von einer Jahrhundertzeugin, die zwei Höllen durchlebte.

Sendung: Radio SRF 4 News, Nachrichten, 20.7.2019, 12:00 Uhr

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