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Gesellschaft & Religion Grenzen sind nicht überflüssig

Als die Berliner Mauer fiel, war der Jubel gross. Die Grenze einer Diktatur war niedergerissen. Wilfried von Bredow, emeritierter Professor für Internationale Politik in Marburg, sieht in Grenzen aber auch eine positive Funktion: Sie sind ein kultureller Faktor und bilden Identität.

An die Berliner Mauer, der Inbegriff des schwer bewachten und befestigten Eisernen Vorhangs, erinnern wir uns lebhaft. Heute erleben wir Westeuropäer die Grenzen in unserer Nähe völlig anders: Leere Zollhäuschen an Grenzbahnhöfen und verwaiste Übergänge zu den Nachbarländern hätte man sich bis vor kurzem nicht träumen lassen.

Die politisch konstruierte trennende Linie zwischen dem In- und dem Ausland spielt im Alltag der Grenzanwohner keine grosse Rolle mehr. Regionen verstehen sich heute oft grenzüberschreitend. Das «Hinterland» von Basel beispielsweise liegt zu einem guten Teil im Ausland. Kreuzlingen gehört zur Agglomeration Konstanz und Italien fängt gleich hinter dem Bahnhof von Chiasso an. Der öffentliche Nahverkehr fährt ganz selbstverständlich auch «nach drüben».

Sperrzäune und Mauern 2014

Buchhinweis

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Wilfried von Bredow: «Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen.» Theiss, 2014.

Global gesehen ist das «kontrollenlose» Schengen-Grenzregime, das die Schweiz seit dem 12. Dezember 2008 umsetzt, allerdings nicht die Regel. In seinem Buch «Grenzen. Die Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen» weist der Politikwissenschaftler Wilfried von Bredow auf «lineare Sperranlagen» in aller Welt hin: etwa zwischen Zypern und Nordzypern, China und Korea, Nord- und Südkorea, zwischen Indien und Pakistan, Indien und Bangladesch, Israel und dem Gazastreifen, Israel und dem Westjordanland, Saudi-Arabien und Jemen, Griechenland und der Türkei, den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und Marokko, zwischen den USA und Mexiko. Teilweise erstrecken sich diese Mauern und stacheldrahtbewehrten Zäune über Hunderte von Kilometern.

Grenzen dienen als Ein- und Ausschliessungsinstrument. Diktaturen woll(t)en verhindern, dass ihre Bevölkerung entweicht. Viel häufiger aber wollen Staaten durch die Befestigung der Grenze Migrationsströme kontrollieren und Gefahren für ihre innere Sicherheit abwehren. Höchst umstritten ist das Grenzregime am Mittelmeer.

Wendepunkt 11. September 2001

Nach den Terroranschlägen auf die USA am 11. September 2001 hat gemäss Wilfried von Bredow ein Umdenken eingesetzt. Träumte man nach dem Ende des Kalten Krieges von einer Welt ohne Grenzen und vom Abbau internationaler Schranken, hat mit 09/11 der Gedanke der Abwehr des Terrorismus grosses Gewicht bekommen. Der Sicherheit wird Priorität eingeräumt: Selbst an der Grenze zum befreundeten Kanada erhöhten die USA die Sicherheitsstufen. Den kleinen Grenzverkehr hat das stark beeinträchtigt. Arbeits-, Einkaufs- und Freizeitpendler auf beiden Seiten jener Grenze sind seither wieder mit mehr Formalitäten konfrontiert.

Grenzen stiften Identität

Angesichts der Globalisierung stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Nutzen von Grenzen. Wenn Konzerne – und übrigens auch NGOs – international tätig sind und die Kommunikation vor Scheidelinien auf Landkarten längst keinen Halt mehr macht, fragt sich, ob Grenzen heutzutage noch notwendig sind. «Ja und Nein», schreibt von Bredow. Zwar würden «politische Entscheidungen (…) durch wirtschaftliche Spielregeln ersetzt», doch Grenzen seien nicht überflüssig geworden: Denn «das Politische formt nach wie vor sowohl die Wahrnehmung als auch das Verhalten von Individuen und prägt Gesellschaften.»

Mit anderen Worten: Grenzen sind nicht nur ein Hindernis für die Wirtschaft, sie lassen sich auch positiv verstehen: Sie bilden gleichsam das geografische Gefäss für die kollektive Identität der Bewohnerinnen und Bewohner eines Territoriums. Sie sind auch ein kultureller Faktor. Diesen gilt es in der Lesart von Wilfried von Bredows informativem und gut lesbarem Buch weder als ausschliessend zu verteufeln noch als Überlegenheit einer Nation über eine andere zu definieren. Denn, wie von Bredow schreibt: «Populismus in Demokratien ist so etwas wie Neurodermitis für den Körper. Kratzen vermehrt das Übel.»

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