Patrizia Sarnataro sitzt direkt am Fenster. Die Wintersonne lässt die bröckelnden Häuserfassaden in Neapels Altstadt glänzen. Doch die Endfünfzigerin hat dafür keinen Blick. Konzentriert wählt sie zwischen verschiedenen Blautönen das richtige Garn aus für den Lederhandschuh auf ihrem Arbeitstisch.
Hier, im dritten Stock eines denkmalgeschützten Wohnhauses, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Von den Vespas, die unten durch die Gasse knattern, ist kaum etwas zu hören. Nur das Rattern alter Singer-Nähmaschinen unterbricht die Stille. Es sind Museumsstücke aus dem 19. Jahrhundert, aber nach wie vor die besten, erklärt Patrizia Sarnataro.
Auch der Besitzer arbeitet mit
Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie für Mauro Squillace, der die Handschuhnäherei von seinem Vater übernommen hat. Ihr gefällt die ungezwungene Arbeitsatmosphäre. Sogar Freundinnen dürfen zu Besuch kommen und ihr beim Nähen zuschauen. Und Squillace ist sich nicht zu schade, selbst das Leder zuzuschneiden.
Auf seinem grossen Schreibtisch liegen Lederproben und handgeschriebene Zettel mit Notizen. Im Regal an der Wand reihen sich Bücher über die Kunst des Handschuhnähens und über die Geschichte des Viertels aneinander. Beides ist historisch eng miteinander verbunden.
Neapel, die Kapitale des Handschuhs
Unter der Herrschaft der Bourbonen im 18. Jahrhundert war Neapel Europas Hauptstadt des Handschuhs. Es gab Hunderte von Betrieben und die meisten lagen wie Omega im Viertel Sanità.
«Damals ging es mehr um Quantität als um Qualität» erzählt Mauro Squillace. Sein Grossvater belieferte vor allem das Militär. Auf Kundenfang musste er nicht gehen. Anders sein Enkel. Er sah sich mit maschinell hergestellten Konkurrenzprodukten konfrontiert, die deutlich preisgünstiger waren. Squillace entschied sich dennoch dafür, die Tradition des handgenähten Handschuhs beizubehalten.
Erfolg mit Nischenprodukt
Squillace führte Omega erfolgreich ins 21. Jahrhundert, indem er auf Qualität und Export setzte. Mittlerweile sind seine Handschuhe auch in den Luxusauslagen in Paris vertreten, dann aber mit dem Etikett Dior versehen.
«Anfangs wollten mich die noblen französischen Modehäuser gar nicht empfangen», schmunzelt Squillace. «Wir Neapolitaner sind im Ausland vor allem für verspätete Lieferungen, schadhafte Qualität und den Versuch, zu betrügen, bekannt» bedauert er. Doch seine Handschuhe sprachen für ihn und heute ist Mauro Squillace ein gern gesehener Gast in Paris.
25 Arbeitsschritte bis zum fertigen Handschuh
Mauro Squillace breitet ein Stück butterweiches Ziegenleder auf dem Tapeziertisch des Zuschneiders aus. «Jedes Stück dieser Tierhaut ist zu etwas nütze. Wir sind Meister des Recycelns, wir werfen nichts weg», sagt er und hält ein Lederquadrat hoch, kaum grösser als eine Briefmarke. 25 Arbeitsschritte sind es bis zum fertigen Handschuh.
Mauro Squillace weiss sein Nischenprodukt international zu vermarkten. Seine Herkunft vergisst er darüber nicht. Einmal im Jahr lädt er die Kinder des Viertels «Sanità», das in Neapel zu den ärmeren Bezirken gehört, in die Werkstatt ein.
«Gefälscht oder echt?»
«Die Kinder, die hier aufwachsen, haben oft genug einen Elternteil, der im Gefängnis sitzt. Mir macht es Freude, ihnen zu zeigen, dass es auch anders geht, dass man mit ehrlicher Arbeit weit kommt. Wenn diese Kinder aus den Gassen Neapels die Etiketten in den Handschuhen lesen, dann fragen sie sofort, ob die nun echt sind oder gefälscht. Das ist Neapel!»
Sendung: Kultur kompakt, Radio SRF 2 Kultur, 27.12.17, 17.15 Uhr