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Harald Welzer Soziologe: «Wir müssten mit gewissen Dingen dringend aufhören»

Vor gut einem Jahr erlitt der Soziologe und Bestsellerautor Harald Welzer einen Herzinfarkt. Das Ereignis hat ihn persönlich verändert, aber auch seine Sicht auf die Gesellschaft.

Welzer sagt: Wir wollen uns nicht eingestehen, dass es mit unserem Leben irgendwann vorbei sein wird. Seine Empfehlung: bereits zu Lebzeiten den eigenen Nachruf schreiben – und endlich anfangen aufzuhören.

Harald Welzer

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Harald Welzer ist ein deutscher Soziologe und Sozialpsychologe. Er ist als Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und als Direktor der Stiftung «Futur Zwei» in Berlin tätig.

SRF: Herr Welzer, im April letzten Jahres waren Sie uns per Leitung in der Sendung zugeschaltet. Kurz danach hatten Sie einen schweren Herzinfarkt. Ich fragte Sie in der Sendung, wie es Ihnen geht. Sie meinten: total gut. Das stimmte vermutlich nicht ganz?

Während der Sendung spürte ich nichts. Erst etwa eine Stunde später bemerkte ich plötzlich einen etwas beängstigenden Zustand, dachte aber an nichts Schlimmes.

Ich hatte die Assoziation, dass es etwas mit dem Herzen zu tun haben könnte, und googelte eine kardiologische Praxis. Weil das Wetter so schön war, ging ich die halbe Stunde dahin zu Fuss.

In unserem Kulturmodell ist das Vermögen unglaublich gross, schlechte Wirklichkeiten nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Autor: Harald Welzer Soziologe

Vor Ort wurde klar, dass Sie die Ambulanz hätten rufen sollen. Ihren Befund überleben 40 Prozent der Patienten nicht. Sie schreiben, dass Sie daraus das Fazit gezogen haben, dass sich etwas ändern muss. Was denn?

Mein Fazit war, dass wir nicht nur in unserem Kulturmodell mit Endlichkeitsproblemen wie Klimawandel und Artensterben nicht umgehen können, sondern wir auch im Privaten Endlichkeitsgedanken vermeiden.

Ich habe von meinem Körper die Mitteilung zu bekommen: Du bist sterblich, also eigentlich fast tot. Dass so etwas passiert, und dann auch noch mir, damit hätte ich nicht gerechnet.

Sie haben daraufhin einen Nachruf auf sich selbst geschrieben und empfehlen allen, dies auch zu tun. Warum?

Es macht Sinn, einen Nachruf zu schreiben, nicht über das gelebte Leben, sondern über das noch kommende. Sich also die Frage zu stellen: Wer will ich gewesen sein?

Das hört sich banal an. Aber durch diese Perspektive lässt sich besser das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Und es hilft abzugleichen, ob das dem entspricht, was man vor ein paar Jahren von seinem Leben erwartet hatte.

Die unfassbare Möglichkeit für Fortschritt bewirkt gleichzeitig, dass wir nicht einfach die Spur wechseln können.
Autor: Harald Welzer Soziologe

Die Schwierigkeit nach solchen Erlebnissen ist ja auch, dass man danach denkt: Jetzt weiss ich, worum es geht. Aber dann hat einen der Alltag wieder. Oder haben Sie die Dinge wirklich nachhaltig verändern können?

Solche Krisenereignisse bewirken zuerst einmal etwas anderes: totales Unverständnis und Hilflosigkeit. Auch ich habe lange nicht verstanden, wie dramatisch alles war. Als jemand, der sich für aufgeklärt und realitätstüchtig hält, war das eine interessante Erfahrung, von Ärzten gesagt zu bekommen: Sie kapieren überhaupt nicht, worum es geht!

Genauso ist in unserem Kulturmodell das Vermögen gross, schlechte Wirklichkeiten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind zwar die, die Tatsachen erkennen und beschreiben, aber genauso Tatsachen verkennen und ignorieren. Auch haben wir kein Konzept vom Aufhören, obwohl wir mit gewissen Dingen dringend aufhören müssten.

Im Gegensatz zu Tieren ist ein Aufhören für uns aber sehr schwierig. Der Anthropologe Michael Tomasello spricht von einem «Wagenheber-Effekt»: Neue Generationen knüpfen an die Errungenschaften der Generation davor an und müssen nicht jedes Mal von Neuem wieder die Umgebung gestalten. Das ist doch eigentlich genial?

Das ist super. Aber diese unfassbare Möglichkeit für Fortschritt bewirkt gleichzeitig, dass wir nicht einfach die Spur wechseln können. Als Teil dieser Kultur kommen wir gar nicht auf die Idee, dass etwas auch ganz anders sein könnte, weil es immer schon so gewesen ist.

Die Erzählung des Wachstums und der Innovation ist attraktiver als die der Mahner.
Autor: Harald Welzer Soziologe

Wie kommen wir trotzdem da raus und schaffen es aufzuhören, zum Beispiel in Bezug auf die Klimakrise?

Sicher nicht durch Alarmismus. Das Mahnen und Warnen hat überhaupt nichts gebracht, das wissen wir heute, 50 Jahre nach den «Grenzen des Wachstums» des Club of Rome.

Die Erzählung des Wachstums und der Innovation ist attraktiver als die der Mahner. Im Zweifelsfall nehme ich auch lieber das Schöne als das Schlechte. Aus der Negation kann ich keine emotionale Bindung schaffen.

Sie wollen stattdessen die Begeisterung für Umweltschutz wecken?

Das ist immer noch zu negativ gedacht. Die Frage wäre: Wie können wir besser leben, nicht wegen eines Dritten wie Umweltschutz oder Klima. Unsere Aufgabe ist es, die gute Geschichte unserer nächsten Zukunft zu entwickeln und erzählen.

Wie soll das gehen?

Ein Beispiel dafür ist die Erklärung der Menschenrechte. Das ist nur eine Geschichte. In dem Moment, als sie formuliert worden ist, sind die Rechte noch nicht durchgesetzt.

Aber sie gibt eine Möglichkeit, eine schönere als zuvor. Das hat etwas Mitreissendes. Man denkt: Da möchte ich mitmachen und dazu beitragen, dass diese Rechte durchgesetzt werden.

Die Fragen stellte Barbara Bleisch.  (Das Interview ist die gekürzte Fassung eines längeren Gespräch, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.)

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 17.10.2021, 11:00 Uhr ; 

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