Wir sind «so gegen 19.00 Uhr» verabredet: «Wenn die Zwillinge schlafen.» Per Video versteht sich. Ein Zwilling schreit. Ich spreche mit Nicole allein.
Nicole und ihre Partnerin Janina leben in einer eingetragenen Partnerschaft. Irgendwann wünschten sie sich Kinder. «In der Schweiz ist die künstliche Befruchtung verboten für ledige Frauen oder für eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Wir haben uns für eine Samenspende im Ausland entschieden.»
Einerseits Mutter, andererseits Fremde
Janina bekam Zwillinge. Nach Schweizer Recht ist sie im ersten Jahr alleinige Mutter. Nicole sagt: «Wenn wir nach einem Jahr nachweisen können, dass ich in dieser Zeit für die Pflege und Erziehung der Kinder gesorgt habe, kann ich eine Stiefkind-Adoption beantragen. Voraussetzung ist zudem, dass wir seit drei Jahre im gleichen Haushalt wohnen.»
Bis dahin haben die beiden Frauen sehr unterschiedliche Rechte, wenn es um die Kinder geht: Wenn bei der Geburt etwas passiert wäre, hätte man Nicole rein juristisch den Zutritt verwehren können.
In der Wirklichkeit seien sie ganz selbstverständlich als Familie unterwegs. Alle wüssten Bescheid. «Das ist absurd: Einerseits Mutter, andererseits Fremde. Ich könnte von heute auf morgen gehen, und meine Frau wäre nicht im Geringsten abgesichert. Ich habe keine Rechte, auch keine Pflichten», so Nicole.
Benachteiligt durch das Gesetz
Jetzt stehen sie zwei Monate vor einer möglichen Stiefkind-Adoption. Dass das Gesetz gleichgeschlechtlichen Paaren das gemeinsame Sorgerecht von Geburt an nicht erlaubt, sei eine deutliche rechtliche Benachteiligung. «Die Befürchtung war, dass das Gesetz bei der Abstimmung sonst nicht durchgekommen wäre. Es gibt also einen bewussten Unterschied zwischen Familien heterosexueller und gleichgeschlechtlicher Eltern.»
Für die Stiefkind-Adoption haben die beiden Vorbereitungen getroffen: Strafregisterauszug, Betreibungsauszug, Lebenslauf, Motivationsschreiben, «eine Art Bewerbungsschreiben.» Ausstehend sei noch ein ärztliches Gutachten, in dem mein Hausarzt, den ich von der Schweigepflicht entbinden muss, bestätigt, «dass ich physisch und psychisch gesund bin.»
Macht Samenspende den Mann verzichtbar?
Ein lesbisches Paar mit Kindern per Samenspende könne massiv irritieren. Vielleicht liege das daran, dass sie den Mann verzichtbar mache.
Oft hören sie dann, dass es mit einem Vater für das Kind besser wäre: «Ein Kind braucht einen Vater und eine Mutter, alles andere ist widernatürlich.»
Anfeindungen im Alltag
Anspielungen und übergriffige Äusserungen gebe es schon. Sexistische auch. Es gebe auch in der Schweiz Orte, an denen es zu massiver Gewalt gegenüber schwulen Männern, lesbischen Frauen und bisexuellen Personen komme, «da würde ich am Abend nicht Hand in Hand laufen», erzählt Nicole.
Bei der Job- oder Wohnungssuche sei die Angst aber immer da: «Soll man es offenlegen oder nicht? Das ist ein Thema für viele: Soll man es dem Arbeitgeber sagen? Wann?»
Unterstützung vom Arbeitgeber
Unterstützung erfuhren Nicole und Janina vom Verein Regenbogenfamilie , von Freunden und Familie. Und von den Arbeitgebern: Beim Eisprung hätten beide Frauen gesagt, dass sie kurzfristig weg müssten. Das wurde sofort bewilligt, «als wir gesagt haben, dass wir Kinder bekommen wollen. Nach der Geburt konnte ich sechs Monate unbezahlten Urlaub nehmen, auch da war mein Arbeitgeber unkompliziert», erläutert Nicole.
Auch Janinas Arbeitgeber ermöglichte ihr, eine sechsmonatige Auszeit zu nehmen und in einem Teilzeitpensum in ihre Führungsfunktion zurückzukehren.
Für die Zukunft wünschen sie sich: Gleichgestellung und mehr gesellschaftliche Akzeptanz.
Diskriminierung hält an
Genau diese gesellschaftliche Akzeptanz, die sich die beiden Frauen wünschen, erforschen Léïla Eisner von der Universität Lausanne und Tabea Hässler von der Universität Zürich in einer Studie .
Deren wichtigstes Ergebnis ist: Diskriminierung ist weiterhin ein Problem. «Das beginnt mit Witzen und geht bis zu körperlicher Gewalt. 8 Prozent der Angehörigen sexueller Minderheiten berichten, dass sie körperliche Gewalt im letzten Jahr erfahren haben»
Bei den geschlechtlichen Minderheiten, also bei trans Personen, intergeschlechtlichen oder nicht-binären Personen seien es über 16 Prozent, sagt Tabea Hässler: «Das sind extrem hohe Werte.»
Daneben gebe es strukturelle Diskriminierung. Sie mache die Befragten zu unsichtbaren Personen: Sie würden weder im Unterricht erwähnt, noch an der Uni, noch in Formularen. Fragebögen lauten auf Mann oder Frau, trans Personen fallen durchs Raster. Medial fänden sie entweder kaum statt: In Werbung, Artikeln, Filmen oder Serien tauchten sie eher am Rand oder als Exoten auf.
Mangelnde rechtliche Gleichstellung
Für gleichgeschlechtliche Paare sei eine Adoption erschwert, auch wenn es seit 2018 die Stiefkind-Adoption gebe. Das sei interessant, weil man als Einzelperson Kinder adoptieren dürfe, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft aber nicht mehr: «Das heisst, in dem Moment, wo man sich wirklich verpartnert, verliert man ein Recht, das man davor hatte. Dieses Problem wird immer wieder genannt», sagt Hässler.
Fortschritte in Sicht
Viele Personen erhielten Unterstützung durch Familie, Freunde und Freundinnen, was sehr wichtig sei: «Denn Diskriminierung kann gesundheitliche Folgen haben – körperliche und seelische, bis hin zu Suizidalität.»
Dass das Antidiskriminierungsgesetz um die sexuelle Orientierung erweitert wurde, wird als positiv erachtet, auch wenn trans Personen darin nicht vorkommen. Ebenso empfinden Betroffene die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und die «Ehe für alle» als unterstützend.
Viele, die sich outen wollen, rechneten mit wesentlich negativeren Reaktionen, als sie dann eintraten, stellt Léïla Eisner fest. Sie gibt aber auch zu bedenken: «Wie tolerant eine Gesellschaft unter der Oberfläche tatsächlich ist, ist schwer auszumachen.» Die Signale des Umfelds wurden jedenfalls häufig als negativ interpretiert. Im schlimmsten Fall komme es zur Selbststigmatisierung, indem sich jemand selbst abwerte.
Kultur der Ausgrenzung
«Schwulsein heisst: Ich bin kein richtiger Mann», sagt Pascal Pajic. Wenn seine Familie «irgendwelche Sendungen im TV geschaut hat, etwa mit einer Dragqueen, sagten meine Eltern: ‹Ui, schau dir den mal an.› Da schwang eine negative Wertung mit, die man als Kind einfach aufsaugt.»
In der Schule hätten Kinder das Wort «schwul» als Schimpfwort benutzt. «Einmal sagte ein Freund von mir: ‹Hätte ich einen schwulen Sohn, würde ich ihn umbringen.› Ich bin in einer homophoben Kultur aufgewachsen.»
Schwulsein darf nicht sein
Mit zwölf Jahren merkt Pascal Pajic, dass ihm Jungs besser gefallen als Mädchen. «Da kam ich mir sehr allein vor. Ich kannte niemanden, der schwul oder lesbisch ist. Ich war der Überzeugung, ich werde dieses Geheimnis mit in mein Grab nehmen. Ich dachte, ich sei abnormal und jetzt einer von denen. Ich konnte das aber nie so sagen. Das Wort ‹schwul› zu denken, war zu viel für mich. Ich dachte nur, ich sei nicht hetero.»
Leben wie im Gefängnis
Dass ein zwölf Jahre altes Kind denkt, dass seine blosse Existenz nicht okay ist, findet er heute schlimm. Er habe angefangen, die Schauspielrolle des «Hetero Pascal» zu spielen. Er habe sich gefühlt wie in einem Gefängnis, in dem er gleichzeitig Insasse und Wärter ist. Er wurde der schärfste Beobachter seiner selbst.
Er habe jedes noch so kleine Detail kontrolliert: «Wie ich spreche, in welcher Tonlage, wie ich gestikuliere, was ich anhabe, wie ich laufe.» Er habe männliche Sachen gemacht: «Kampfsport, obwohl ich den nicht mag. Aber es war hetero. Ich hatte einen Töff, obwohl ich Geschwindigkeit nicht mag. Ich habe alles kontrolliert, jede Sekunde, sieben Tage in der Woche. Ich konnte meine schwule Identität nicht akzeptieren. Ich dachte, dass ich sonst nicht nur mich selbst verliere, sondern auch mein ganzes Umfeld.»
Zufälliges Coming-Out
Erst mit 19 beginnt er, seine Homosexualität zu akzeptieren. Der innere Prozess sei für ihn die Voraussetzung für sein Outing gewesen. Das passierte durch Zufall. An einem Sonntagnachmittag surft er mit seinem eineiigen Zwillingsbruder auf Social Media. Als er entdeckt, dass Pascal das Foto eines Jungen gelikt hat, fragt der Bruder: «Bist du schwul?» Schockstarre, Pascal verneint nicht. Der Bruder geht zu den Eltern: «Der Pascal ist schwul.»
«5000 Tonnen Last waren weg. Ich konnte endlich richtig atmen.» Einerseits spürt Pascal Erleichterung, andererseits schaut ihn sein Vater nicht mehr an, sondern demonstrativ aus dem Fenster. Die Mutter lächelt zwar, aber eine Welt sei für sie zusammengebrochen.
Sorge der Eltern
Für alle beginnt ein langer Prozess. Jahre später erfährt Pascal, dass seine Eltern nach Kroatien ans Meer gefahren sind. Dort hätten sie zusammen geweint.
Danach sei plötzlich alles leichter gewesen. «Ihre Ängste waren massiv. Sie dachten sich: Was passiert jetzt mit ihm? Findet er Anschluss? Liebe? Geborgenheit? Wird er diskriminiert, verprügelt?»
Die Befürchtungen treten ein. «Wenn ich Hand in Hand mit einem Mann durch die Strassen ging, wurde mir vor die Füsse gespuckt, wurden mir Beleidigungen hinterhergerufen, wurde ich mit Bierflaschen beworfen.» Jugendliche wollten ihn zusammenschlagen. Es kam nicht dazu, aber Pfefferspray trage er immer bei sich. Manche Orte meide er gezielt.
Mit der Ehe für alle sei ein grosser Schritt getan. Bis dahin haben wir «einfach nicht die gleichen Rechte. Das ist ein Fakt. Ich denke mir dann, zähle ich nicht gleich viel wie ein heterosexueller Mensch?».
Im Alltag gebe es diese Witze, Anspielungen: «Meine Freunde nehmen Rücksicht. Sie haben mir aber schon erzählt, dass die Eltern gefragt hätten: ‹Ist Pascal wieder normal?›». Freunde sagten ihm auch, dass sie gegen die «Ehe für alle» stimmen würden – das habe aber nichts mit ihm zu tun. Das verletze ihn sehr.
Der Mensch bleibt gleich
Menschen, die sich outen wollen, rät Pajic: «Zweifle ja nie daran, dass deine Existenz okay ist. Oute dich erst, wenn du dich bereit fühlst. Sei dir bewusst, dass es keinen perfekten Zeitpunkt gibt.»
Dem Umfeld rät er: «Seid euch bewusst, diese Person ist euer Bruder, eure Schwester – nicht eine andere Person, nachdem sie sich geoutet hat. Es ist immer noch die gleiche Person, die du toll findest, die du witzig findet, die du liebst.»