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Herausforderung Teamalltag «Alles Idioten!» – Eine Liebeserklärung an die Leidensgenossen

Unser Autor arbeitet am liebsten allein. Aber was wäre die ganze Plackerei ohne die Kolleginnen und Kollegen? Versuch einer Verbeugung.

Neulich in einem Grossraumbüro zu Basel, in diesem Quaderkoloss aus dem Hause Herzog & de Meuron, der an trüben Tagen an ein Gefängnis gemahnt. Der Freitag war noch jung, Kollegin K aus dem Social-Media-Team ist es bis heute. «Sag’ doch», hob sie an und richtete sich in dem Stuhl auf, auf dem sie sich meistens ohne Schuhe einnistet, «kennen Menschen in deinem Alter eigentlich das Wort ‹Dissen›?»

Ein Hochhaus im Halbdunkel.
Legende: Das Meret Oppenheim Haus: ein Turmbau zu Basel, der selbstredend hoch hinaus will – und tief in seinem Inneren auch ein Taubenschlag ist. SRF / Simon Krebs

Keine Ahnung, ob sie sich noch an die Szene erinnert, die mir wieder einfiel, als mich Kollegin A, die mit der Lizenz zum Themenplanen, mit den Worten überfallen hatte: «Schreibst du uns eine Hommage an die Kolleginnen und -kollegen?» Erster Gedanke: Das ist sicher gut gemeint. Aber wird es nicht böse enden, wenn man sich am Arbeitskollegium abarbeitet?

Stefan Gubser

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Stefan Gubser macht Online-Journalismus, seit es das Internet gibt. Früher befragte der studierte Germanist berühmte Schauspieler. Heute wird er gerne mit einem verwechselt und arbeitet bei SRF Kultur.

«Du kannst natürlich auch schreiben: Die gehen mir alle auf den Senkel», schob A nach. Dann musste sie «in die nächste», wie man hinter den selbstfahrenden Fenstergittern im Elfenbeinturm aus Stahl sagt und im Kopf vollautomatisch «Sitzung» ergänzt. Dissen zum Zweiten, oder hier gibt ja ein Wort das andere.

Zauber der Zumutung

Binsenwahrheit, die: Arbeitskolleginnen und -kollegen sind eine Zumutung – und das in so ziemlich jeder Hinsicht des Wortes. Wir haben sie uns nicht ausgewählt, wenigstens in den unteren Etagen, wo keine Teppiche den Trittschall schlucken. Manche Kolleginnen waren vor mir da, andere Kollegen sind später dazugestossen.

Bitte was sind schon Typos in Zeiten von TikTok und den Twitter-Troubles?

Uns alle verbindet eine Firma, ein Arbeitsgebiet und damit ein gemeinsames Grundinteresse, zu dem auch das Geldverdienen gehört. Das sind vorzügliche Voraussetzungen, auch für feste Freundschaften, zumal hier Kulturmenschen mit Köpfchen zusammenfinden, die zwar Ellbogen ihr Eigen nennen, aber meist die Hände von ihnen lassen.

Eine Frau hinter ihrem Laptop an einem Bürotisch, sie hat ihre Schuhe ausgezogen.
Legende: Rein ins Büro, Schuhe ausgezogen und Laptop aufgeklappt. Die Kolleginnen und Kollegen sind auch schon da – zumindest im Videocall. SRF / Simon Krebs

In besagter Zumutung steckt auch jenes Versprechen, das zu Zusammenarbeit zwingend gehört: Wir trauen uns wechselseitig etwas zu. Die Jüngeren wie Kollegin K und Konsorten wissen vielleicht nicht zu jeder Tageszeit, wie man Houellebecq buchstabiert und kennen Peter Bichsel oder diesen Dimitri nicht mal mehr dem Nachnamen nach.

Dafür lassen sie die «Seniors» im besten Sinne alt aussehen, weil sie anderswo und anderswie «an der Gegenwart angeschlossen sind», wie Benjamin von Stuckrad-Barre das einmal nannte. Und bitte was sind schon Typos in Zeiten von TikTok und den Twitter-Troubles?

Andere wie A tragen mir an, diesen Text zu schreiben. Das bringt mich zwar nicht um, aber um den Schlaf. Das heisst aber auch: Da denkt wer, der kriegt das schon auf eine Weise gebacken, dass Sie nach Abschnitt, Augenblick, fünf nicht einnicken und wegklicken.

Dass ich selbst eine Zumutung sein kann? Fragen Sie bei den Kollegen nach. Immerhin beneiden sie den Sturkopf mit den Stabreimen nicht um diesen Auftrag, von dem ich nur hoffe, dass ihn meine Chefin nicht liest. Ich finde bis hier und heute: Dieser Text hätte im Team entstehen müssen. Aber zusammen etwas schreiben? Da bin ich weg.

In weiter Ferne, so nah

Man muss wissen, dass Alltag in meinem Team in der Regel nicht bedeutet, viel zu lange Fliesstexte über das Faszinosum «Buddys im Büro» aus den Fingern zu saugen. Wir haben uns dazu, ja, verdonnern lassen, die Geistesblitze der Radio- und TV-Kolleginnen für den Online-Gebrauch flottzumachen. Ich nenne das «fremde Federn schmücken».

SRF-Schwerpunkt «Zahltag»

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Frau auf Illustration balanciert mit Geld und Herz auf einem Seil.
Legende: SRF

In einem Schwerpunkt «Zahltag» beleuchtet SRF den Wandel der Arbeit und das Verhältnis dazu. Vom 28. April bis 7. Mai 2023 stehen im Fernsehen, im Radio und online zahlreiche Beiträge auf dem Programm .

Wir kriegen pfannenfertige Texte vorgesetzt, schmecken sie sorgfältig ab, garnieren sie mit Bildern und pfeffern sie mit einem gesalzenen Titel. Ja, so geht Online-Journalismus heute. «Als die Schweiz sich die Kugeln gab!» Wenn Sie klicken, was Sie nie lesen wollten, waren wir am Werk. Mal ehrlich: 50 Jahre Schweizer Zahlenlotto?

Betont vorsichtig nach oben treten und dabei um die eigenen niederen Instinkte wissen? Ein Prosit auf die Psychohygiene.

Es ist kompliziert geworden seit Corona. Vor der Pandemie war Team Alltag. Mein Teamwork begann um halb acht Uhr in der Früh am Hauptbahnhof Zürich, wo wir Power-Pendelnden den Grundsatz hochhielten: Sich zunicken: ja, aber bis Basel kein Wort, nirgends, auch wenn man aus Versehen nebeneinander zu sitzen kommt.

Eine Frau hält ein Blatt in der Hand und erklärt einem Mann den darauf geschriebenen Text.
Legende: Zum Mitschreiben: Top ist Teamwork in aller Regel dann, wenn keiner das letzte Wort hat, sondern alle beide sich offen zeigen – auch für Widersprüche. SRF / Simon Krebs

Im Hochhaus dann eine Plapperpause nach jeder Morgensitzung, Mittagessen zu mehrt. Abends vielleicht, ach was, abends immer Apero im Speisewagen, wo Kollege F «das grösste Bier, das Sie haben» bestellte. Nächster Halt: Backtalk. Betont vorsichtig nach oben treten und dabei um die eigenen niederen Instinkte wissen? Ein Prosit auf die Psychohygiene.

Team sind «die, die einfach da sind», hat der mir nicht bekannte Berufskollege Kurt Kister im Magazin der «Süddeutschen» einmal geschrieben. Seit – Corona sei Dank – Remote-Work zur Regel und Routine geworden sein kann, ist das anders. In meinem Falle: Die meisten Kolleginnen und Kollegen sind schon «da». Nur ich bin es meistens nicht oder nur per Videoschalte.

Die Gespräche im Gang fehlen mir. Nicht aber das Geplapper und Geschwätz, das auch zum Grundrauschen im Grossraumbüro gehört, genau wie der Telefonterror jener Ausnahmeerscheinungen, die zu Lautsprechern mutieren, sobald sie ihre Kopfhörer montieren.

«Fascht ä Familie»

Wie oft habe ich, wenn ich bei den Kollegen und Kolleginnen oder im engeren Freundeskreis nachfragte, solche Sätze gehört, die wie aus einem Munde kamen: «Das Team ist das Wichtigste.» – «Ich sehe die Arbeitskollegen ja öfter als den Partner, die Kinder oder meine Band!»

Noch so ein Evergreen: «Stimmt es im Team, ist es mir schnurz, wie schlimm der Job ist.» Ein «alles Deppen, nein, alles Idioten» gab es ein einziges Mal. Es war der Scherz eines Kollegen, der längst zu einem Freund geworden ist wie ein paar andere auch, die ich einst als Arbeitskollegen kennenlernte.

Ein Mann und eine Frau im angeregten Gespräch vor einer Kaffeemaschine.
Legende: «Und, wie geht's den Kindern?» Immer auf Augenhöhe, immer was zu erzählen: Arbeit ist, wenn's wie zuhause ist – und der Kantinenkaffee einigermassen geniessbar. SRF / Simon Krebs

Mein Bauchgefühl sagt mir, der ich mich nicht als Ja-Sager, sondern als Ja-aber-Denker sehe: Das Kollegium ist – bei aller physischen Distanz, die es ausmacht, wenn man nicht gerade eine Büroaffäre hat oder mit der Liebe seines Lebens auch geschäftlich unter einer Decke steckt – tatsächlich ein wenig wie eine zweite Familie. Betonung auf: ein wenig.

Geht es nur mir so? Aber es braucht bedeutend mehr, bis ich im Grossraumbüro laut werde, geschweige denn, eine Tür zuschlage, von denen es in unserem Hochkulturhochhaus kaum mehr welche gibt. Gut möglich, dass ich diesen Text sonst gar nicht geschrieben hätte, auch wenn ich, langsam Land in Sicht, nicht mehr befürchte, er werde mich den Kopf kosten, den ich mir nicht mehr mache.

Meckern am Mittagstisch

Team ist, wenn man sich eine Pizza teilen kann. So soll es jedenfalls Apple-Guru Steve Jobs gesehen haben, ich weiss es dank einer klugen Kollegin. Das hat etwas, auch wenn in unserem Pausenraum mit freier Sicht auf den von Tauben verkackten Innenhof nie ein grosses Ganzes in seine Einzelteile zerlegt wird.

Drei Hände greifen nach einer in Stücke geschnittenen Pizza.
Legende: Eine für alle: Zum Beispiel in der Mittagspause zeigt sich, wie gut mit den Mitarbeitenden Kirschen essen ist – oder eben etwas anderes. SRF / Simon Krebs

Meine Kollegen haben meist alle etwas anderes auf dem Teller liegen. Hier verwerten die Sparfüchse die Spaghetti-Resten vom Vortag. Dort tafelt Team Take-Away Thai. Zu ihr Linken gönnt sich Grossmeister G das Menü 1 vom Japaner. Oder wie manche im Team sagen: vom «Japanesen».

Das Berufsleben, ein Sprachspiel

Ist Team nicht in seiner reinsten Form auch eine Art privatsprachlicher Zwangsjackengemeinschaft? Ein Sprachspielraum, der einem zum Glück auch offensteht, wenn man nicht gemeinsam am Mittagstisch sitzt und sich, ja, über einen Kollegen den Mund zerreisst, der am Nebentisch sitzt, was leider nicht unbemerkt geblieben ist?

Selten vorgekommen, zum Glück, genau wie so etwas: Was wäre mit «100 Sekunden Dissen?» Ein Format, in dem gefrotzelt wird, aber auf gehaltvolle Weise, geboren aus dem Geist des ziellosen Gesprächs, das sich beim Palavern ergibt? Machen wir gleich morgen – oder sonst halt übermorgen.

Sie dürfen mich ruhig dissen, in der Folterkammer namens ‹Kommentarspalte›.

Aber vorher schlagen wir uns noch ein paar Fachbegriffe um die Ohren, von denen kein Mensch ausserhalb unseres Turmbaus zu Basel auch nur ein Wort versteht. Da sind die «Bilas» und «Kapas», da wären die «Modigespräche» und all die anderen Merkwürdigkeiten, die uns den nicht immer lieben langen Tag über die Lippen gehen. Häufig wider besseres Wollen.

File under: Denglisch für Deppen, und das jetzt sogar in diesem Text, der noch immer nicht zu Ende ist. Sie dürfen mich ruhig dissen: am einfachsten in jener Folterkammer nach dem Happy Ending, die in unserer Fachfremdsprache «Kommentarspalte» heisst.

Anstand kommt von Abstand

Es ist kompliziert, schrieb ich weiter oben, wenn ich mich richtig erinnere. Das hat auch damit zu tun, dass man zu den Kolleginnen und Kollegen unterschiedliche «Verhältnisse» pflegt, was erst einmal nichts darüber aussagt, wie gut man zusammenarbeitet.

Ich bin weit davon entfernt, das Siezen wieder einführen zu wollen. Aber ein bisschen Distanz hat dem kritischen Blick nie geschadet – und gerade deshalb sind die Neuen so wichtig, mit ihrem frischen Blick auf eingefahrene Auswüchse, nicht nur die sprachlichen.

Zwei Männer und eine Frau sitzen vor beachtlichen Büropflanzen.
Legende: «Und wie finden wir dieses Blau?» Man mag sich noch so grün sein auf dem Sofa. Auch die tendenziell pausenlosere Telearbeit hat ihren Reiz. SRF / Simon Krebs

Und doch, ich gebe es zu, sind es immer dieselben zwei oder drei Charakternasen, die ich mit meinen Texten belästige, manchmal schon mit vorfertigen Versionen. Betreffzeile: «Geht das, oder müsste man das vielleicht eher so – siehe Anhang?»

Ich meine mich dunkel zu erinnern, ich hätte dem mir so lieb gewordenen Lesezirkel auch schon aus Versehen Auszüge aus meinen Tagebüchern zum Gegenlesen geschickt. Zwei Stunden später waren sie auch für mich lesbar.

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Kollegen, das weiss der alte Latein-Liebhabende, sind im Grunde Menschen, die gemeinsam lesen. Das Schöne an Mitstreitenden, die von Berufes wegen Sprachliches zur Sprache zu bringen haben: Man liest sich gegenseitig Texte, die man selbst verfasst, und seien es nur Headlines und Hashtags, Zwischentitel oder Tweets. Auch da hilft die Distanz qua postpandemisch bedingter Ferne.

Hat nicht der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz in seinen Tagebüchern neben allerlei Missgünstigem auch den mustergültigen Merksatz hinterlassen: «Wer schreibt, ist immer nackt?» Ich kann damit einfach besser umgehen, wenn ich irgendwo unbeobachtet vor meinem Computer sitze.

Alles bleibt anders

Das Komplizierte am Team heute ist, dass man plötzlich wieder neu sein kann – egal, wie viele Dienstjahre einer oder eine auf dem Buckel hat. Eine Folge der dauer-dynamisch gewordenen Arbeitsprozesse, in denen pausenloser «Change» die letzte Konstante geblieben ist und man in immer neuen Zusammensetzungen zusammenfindet.

Das hält so jung wie die Jungen, auch wenn man gerade anfangs alt aussieht, bis man sich eingefunden hat in einem schon wieder neuen Sprach- und Denkgebilde, das anderen Regeln zu gehorchen scheint. Schön ist natürlich, dass es viel braucht, bis man deswegen gedisst wird.

Kollegin K, die mit ohne Schuhen auf dem Stuhl, habe ich damals nicht geantwortet: «Ich weiss, was Dissen bedeutet, ich habe es ja praktisch erfunden.» Sie weiss ja auch nicht vom motzfreien Montag, den ich in einer schwachen Stunde mit Kollegen ins Leben rief, dem der Diss-Dienstag folgt, der Mecker-Mittwoch, der Durchhalteparolen-Donnerstag und ein Frotzel-Freitag.

Ich habe K damals fast wahrheitsgemäss gefragt: «Dissen, das ist doch, wenn sie an der Universität den Doktor machen?» Wir haben beide gelacht.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 30.4.2023, 11:00 Uhr

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