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Herbert Grönemeyer: Menschsein, hier und jetzt
Aus Sternstunde Philosophie vom 21.08.2016.
abspielen. Laufzeit 57 Minuten 16 Sekunden.
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Gesellschaft & Religion Herbert Grönemeyer: «Wir haben die Unschuld verlor'n»

Unschuld ist das Thema eines Buches, das dem Musiker Herbert Grönemeyer am Herzen liegt. Der Ungare Sándor Márai erzählt in «Die Glut» von tiefer Freundschaft und grossem Verrat. Das Buch hat Moderatorin Barbara Bleisch neugierig gemacht – und beim Lesen in seinen Bann gezogen.

Studio «Ciné Plus», Berlin Mitte, kurz vor 16 Uhr: Herbert Grönemeyer hebt noch einmal an zu einem flammenden Plädoyer für Menschlichkeit an und fordert, in der Flüchtlingskrise Stellung zu beziehen.

Ein kurzer Dank meinerseits, Kamerarückfahrt, das Licht geht aus. Sie ist im Kasten, die «Sternstunde Philosophie» mit einem der erfolgreichsten Musiker Deutschlands.

Herbert Grönemeyer und Barbara Bleisch
Legende: Herbert Grönemeyer und Barbara Bleisch bei der Aufzeichnung der «Sternstunde». SRF

Begegnet bin ich einem Menschen, der herzlich und offen plaudert, schallend lacht und aufmerksam zuhört – und dabei so authentisch wirkt, dass ich mich später in der Garderobe frage: War das jetzt der echte Grönemeyer oder eine Kunstfigur? Denn im Interview sagte der Musiker nicht ohne Ironie: Seine Maske sei die Echtheit, seine Künstlerrolle die Authentizität.

Ein Buch zum Abschied

Die Spurensuche nach dem wahren Ich meines Jugendidols habe ich fortgesetzt, indem ich mich in die Lektüre des Buches vertiefte, das mir Herbert Grönemeyer zum Abschied übergeben liess. Ich hatte meinen Gast gebeten, zur Aufzeichnung etwas mitzubringen, das ihm am Herzen liege. Mitgebracht hat Grönemeyer zwei Bücher: Einen Gedichtband von Mascha Kaléko und «Die Glut» des ungarischen Schriftstellers Sándor Márai. In der Sendung haben wir nur über Kalékos Gedichte gesprochen, deren «melancholischen Frohsinn» Grönemeyer bewundert.

«Mit schönem Gruss von Herbert»

Sein Exemplar von «Die Glut» drückte mir sein Manager in die Hand, als ich bereits beim Abschminken sass, mit «schönem Gruss vom Herbert». Das Buch war mir unbekannt. Und weil geschenkte Lektüren stets viel über den Schenkenden verraten, habe ich mich neugierig ins Buch vertieft.

Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai.
Legende: Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai kann es mit Kafka und Nabokov aufnehmen. Wikimedia

Um es vorwegzunehmen: Ich wurde reich beschenkt. Nicht, dass mich das erstaunt – einer der Goethes «Faust» inszeniert, den Soundtrack zu Kinofilmen von Anton Corbijn komponiert und mit über 13 Millionen verkauften Alben zu den erfolgreichsten Musikern im deutschsprachigen Raum gehört, muss viel von Kunst verstehen.

In den Bann gezogen

Doch das Buch des Ungaren Sándor Márai, das 1942 auf Ungarisch erschien und 1998 in deutscher Übersetzung neu herausgegeben wurde, hat mich in den Bann gezogen, wie lange kein Buch mehr.

Die Lektüre hat mich auf eine Bildungslücke hingewiesen: Márai gehört zu den bedeutendsten ungarischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und wird von Kritikern in einem Atemzug mit Franz Kafka und Valdimir Nabokov genannt.

Das Leben rückwärts verstehen

«Die Glut» erzählt die Geschichte einer tiefen Männerfreundschaft und eines grossen Verrats. Der Roman spielt 1941 auf einem Jagdschloss in den Karpaten, wo sich die alten Jugendfreunde Henrik und Konrad nach 41 Jahren wieder sehen. Damals kam es zwischen den beiden zu einem Vertrauensbruch, in dessen Zentrum die Ehefrau von Henrik steht.

Der kammerspielartige Roman liest sich wie eine künstlerische Umsetzung von Søren Kierkegaards These, dass wir unser Leben zwar vorwärts leben, aber nur rückwärts verstehen können. In den Jahren, in denen Henrik einsam darüber brütet, weshalb es zu diesem Verrat gekommen ist, kristallisiert sich langsam sein Verstehen heraus: Der Brüskierte setzt Schritt für Schritt die Geschichte zusammen und erkennt, wie sich die Zeichen der Freundschaft schon früh in Signale der Missgunst wandelten und die Unterschiede zwischen den Freunden von Kindsbeinen an trennend wirkten.

«Übertritt Grenzen und verflieg»

Während der Lektüre erinnerte ich mich an Grönemeyers Lied «Kein Verlust», das einen Vertrauensbruch zum Thema hat und in dem es heisst: «Das Leben ist härter, wie haben die Unschuld verlor'n.» Im Kern handelt auch das Buch «Die Glut» vom Verlust der Unschuld.

So edel das Vorhaben der Freundschaft jenseits aller Standesregeln sein mag – der General Henrik ist vermögend und aus einer gut situierten Familie, Konrad stammt aus der Unterschicht – die Unschuld ist nicht möglich, und die dreckige Realität holt die ungleichen Freunde irgendwann ein. Dennoch trennen sich die beiden alten Männer nach ihrem letzten Wiedersehen in Respekt voneinander.

Buchhinweis

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Sándor Márai: «Die Glut», Piper Verlag, 1999.

Vielleicht in der Einsicht, dass es im Leben nicht allein darum gehen kann, seine Haut zu retten, sondern, wie Henrik im Buch sagt, um die Leidenschaft, «die eines Tages in unsere Herzen, Seelen und Körper fährt und dann auch ewig brennt». Das ist ganz Grönemeyer. Oder wie er in seinem neuen Lied «Pilot» singt: «Übertritt Grenzen, übersteuer und verflieg.»

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