«Die Himmelsscheibe von Nebra ist wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit», sagt der Historiker Kai Michel. «Sie erzählt uns wunderbare Dinge über eine uns fast unbekannte Kultur.» Als die Bronzescheibe vor 20 Jahren gefunden wurde, war das eine Sensation.
Die älteste Himmelsdarstellung weltweit wurde nicht im Orient mit seinen Hochkulturen in Ägypten und Babylon entdeckt, sondern im Harzgebirge im Osten Deutschlands. Im «Reich von Nebra» der wenig bekannten Aunjetitzer Kultur.
Der Fund der Himmelsscheibe löste eine Forschungswelle aus. Viele kleine Puzzlesteinchen kamen zusammen. So fanden Forscherinnen und Forscher etwa die Kreisgrabenanlage von Pömmelte, das «Stonehenge von Deutschland»: einen Ritualort, ebenso komplex wie der Steinkreis in England.
Handelsbeziehungen von England bis nach Babylon
Es zeigte sich, dass es schon in der Bronzezeit vor 4000 Jahren weitläufige Handelsbeziehungen gab: Gold und Zinn der Himmelsscheibe stammten aus Cornwall, das Kupfer kommt aus Österreich. Und das Wissen, das auf der Himmelsscheibe verewigt wurde, komme gar aus dem Nahen Osten, schreiben Historiker Kai Michel und sein Co-Autor Harald Mellner in ihrem neuen Buch.
Sie argumentieren, die Himmelsscheibe sei in ihrer Anfangszeit, also vor 3800 Jahren, ein Instrument gewesen, um den Sonnen- und Mondkalender zu vereinen. Dieselbe Technik hätten auch die Herrscher in Babylon benutzt, etwa der berühmte Hammurabi.
Die Aunjetitzer könnten das Wissen also aus dem Nahen Osten übernommen haben. Zumal es Beweise für Handelsbeziehungen gab: Perlen aus Ägypten, die in England gefunden wurden. Und Bernstein aus dem Baltikum in Assur im heutigen Irak. Wenn es Warenverkehr gab, warum also kein Wissensverkehr?
Weniger Gleichheit, mehr Hierarchie
Diese Theorie ist bisher genau das: eine Theorie. Vieles bleibt trotz Himmelsscheibe und neuer Forschung unbekannt. Denn die Aunjetitzer kannten keine Schrift, in der sie von Reisen oder Handelsbeziehungen hätten erzählen können.
Klar ist aber: Die Bronzezeit war eine Zeit der grossen Veränderungen. Erstmals gab es grössere Reiche in Europa mit Herrschern, die über kleinflächige Häuptlingstümer hinauswuchsen. Aus einer relativ egalitären Gemeinschaft wurde eine hierarchische. Die neuen Anführer mussten ihre Herrschaft neu legitimieren und begannen, sich als Nachfahren der Götter darzustellen.
Auch das zeigt sich auf der Himmelsscheibe. Denn sie wurde im Laufe der Zeit verändert und erhielt neu eine Sonnenbarke, ein Schiff, das den Übergang von der Erde zum Himmel symbolisiert – vom irdischen zum göttlichen. Die Forscherinnen und Forscher gehen zudem davon aus, dass die Himmelsscheibe neu zur Schau gestellt wurde.
Darauf deuten die Löcher hin, die nachträglich in den Rand gestanzt wurden. Die Himmelsscheibe wurde also von einem wissenschaftlichen Instrument zur Berechnung der Zeit zu einem Herrschaftssymbol, das die Nähe der Elite zum Göttlichen beweisen sollte.