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Hirnforscher Gerhard Roth «Manche Angewohnheiten können wir nicht ablegen»

Haben Sie sich frei entschieden, dieses Interview zu lesen? Oder war das Ihr Gehirn? Ein Gespräch mit dem Hirnforscher und Philosophen Gerhard Roth über Willensfreiheit, Automatismen bei Entscheidungen und die Schwierigkeit, sich zu ändern.

Gerhard Roth

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Gerhard Roth, Jahrgang 1942, hat Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft studiert und in Philosophie promoviert. Anschliessend hat er Biologie studiert und in Zoologie promoviert. Er war lange Zeit Professor für Verhaltensphysiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Seine zahlreichen Publikationen zum Thema Gehirn sind Bestseller.

SRF: Sie sagen, gewisse Angewohnheiten sind so tief in uns verankert, dass sie fester Teil unserer Persönlichkeit sind. Heisst das: Wer sich verändern will, hat es schwer?

Gerhard Roth: Eigentlich wollen sich die meisten Leute, wenn sie halbwegs erwachsen sind, nicht mehr so stark verändern. Das wäre auch schlecht für unsere Gesellschaft. Denn sie baut darauf, dass Menschen sich nicht dauernd verändern. Dass man eine gewisse Persönlichkeit hat, an der man sich und andere erkennt.

Unser Temperament, womit wir schon auf die Welt kommen, bestimmt unsere tiefen Entscheidungen. Man hat ein offenes, ruhiges oder fröhliches Temperament. Oder man ist ein Optimist.

Man kommt also auf die Welt, und dann passiert nichts mehr mit unserem Temperament?

Psychologen und Psychologinnen sagen, dass das Temperament, mit dem man auf die Welt kommt, sich nicht mehr ändert. Man weiss inzwischen auch, dass es schon vorgeburtlich von der Umwelt und vom Gehirn der Mutter bestimmt wird.

Im Bauch der Mutter wird mein Temperament schon geprägt?

Ja, durch die Gene und durch epigenetische Kontrollmechanismen.

Epigenetische Kontrollmechanismen? Das müssen Sie kurz erklären.

Die Gene tun nichts von selbst, sie müssen abgelesen werden. Wie wenn man ein Buch aufschlägt und etwas nachliest. Dieser Apparat, der die Gene als Ganzes, bruchstückhaft oder gar nicht abliest, das sind die epigenetischen Kontrollmechanismen.

Die sitzen vor den Genen und bestimmen, in welchem Masse ein bestimmtes Gen abgelesen wird. Sie machen unsere Individualität aus, nicht die Gene. Das erkennt man an der unterschiedlichen Entwicklung von Zwillingen gut.

99 Prozent unserer Entscheidungen sind automatisiert.
Autor: Gerhard Roth Hirnforscher

Wenn wir schon so früh geformt werden: Sind wir denn eigentlich frei in unseren Entscheidungen?

Die allermeisten Entscheidungen unseres täglichen Lebens – über 99 Prozent – sind automatisiert. Diese Entscheidungen werden in einem besonderen Teil ganz tief im Innern unseres Gehirns, den Basalganglien, gefällt. Die entscheiden für uns.

Zum Beispiel beim Fahrradfahren oder beim Kochen?

Ja, oder beispielsweise Handbewegungen oder die Art und Weise, wie wir sprechen. Das ist alles hoch automatisiert. Das Allermeiste wird zur Gewohnheit, weil wir es erlernt haben – bewusst oder unbewusst. Wir machen fast alles ohne freie Willensentscheidung, weil es einfach klar ist, dass wir es tun.

Modus Autopilot.

Genau. Ich könnte jedoch sagen: Ich rede jetzt nicht mehr mit Ihnen.

Es ist sinnlos zu spekulieren, was gewesen wäre, wenn.
Autor: Gerhard Roth Hirnforscher

Man kann auf Automatismen in einem gewissen Rahmen willentlich eingreifen. Es ist aber umso schwerer, je tiefer unsere Angewohnheiten sind. Und manche Angewohnheiten können wir gar nicht mehr ablegen.

Haben Ihre Erkenntnisse aus der Forschung eigentlich ihr Leben verändert?

Ich spekuliere heute selten darüber, was gewesen wäre, wenn ich damals anders gehandelt hätte. Denn ich konnte oft gar nicht anders handeln. Niemand kann das.

Buchhinweis

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Gerhard Roth: «Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern». Klett Cotta, 2007.

Selbst, wenn er oder sie vorher nachgedacht hat. Denn wie jemand nachdenkt, ist ja auch von der vorgehenden Erfahrung abhängig, von einem Schatz an Reflektionen, die sich im Langzeitgedächtnis im Hirn befinden.

Wir entscheiden uns dann mal so oder so. Es ist deshalb sinnlos zu spekulieren, was gewesen wäre, wenn.

Das Gespräch führe Yves Bossart.

(Dieses Interview ist ein Auszug aus der «Sternstunde Philosophie » . Die Fragen und Antworten wurden bearbeitet und gekürzt.)

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 22.08.2021, 11:00 Uhr ; 

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