«Die erste halbe Stunde ist gratis», sagt Liu Lizhu, während sie ihre Karte auf einen Sensor legt, um ein Velo zu entriegeln. Rund zwei Dutzend orange Fahrräder stehen vor dem Gebäude der Taipeher Stadtregierung. Liu kommt gerade von einer Veranstaltung, auf der die zwanzigmillionste Velomiete gefeiert wurde.
Die begeisterte Fahrradfahrerin ist Sprecherin von Youbike – das Gemeinschaftsvelo-System, das in Taiwans Hauptstadt derzeit für Rekordmieten sorgt. Betrieben wird Youbike vom taiwanischen Fahrradhersteller Giant, der bereits die ganze Welt mit Velos beliefert.
Youbike nimmt Fahrt auf
Wurden in den ersten vier Jahren zehn Millionen Fahrten registriert, knackte Youbike im letzten Halbjahr bereits die 20 Millionen-Marke. Inzwischen überzieht ein Netz von 160 Stationen das Stadtzentrum und die Peripherie. Über 50‘000 Fahrten verzeichnet das Gemeinschaftsvelo täglich.
Dennoch werde das Velo die Motorräder und Autos in absehbarer Zeit nicht ersetzen können, sagt Verkehrsexperte Chiou Yu-Chiun. «Unser Strassensystem ist für Motorfahrzeuge angelegt», so der Professor der taiwanischen Chiao Tung Universität. Chiou Yu-Chiun evaluierte für die Regierung die taiwanischen Velowege. Von denen gibt es vor allem im Stadtzentrum viel zu wenige.
Keine Velokultur
So benutzen Youbike-Fahrer, wie zum Beispiel der Telekom-Angestellte Yang Mingjun, in der Innenstadt vor allem das Trottoir. Auf der Strasse fürchte er sich vor den Autos und Bussen, die ihm zu nahe kämen, sagt Yang. Yang Mingjun fährt zwei bis dreimal in der Woche mit dem Gemeinschaftsvelo nach Hause.
«Uns fehlt noch eine richtige Velokultur», sagt Yang. Dies zeigte sich, als die Stadtregierung vor fünf Jahren eine breite Velospur auf einer Hauptstrasse einweihte. «Sie wurde von den Velofahrern zu wenig genutzt», sagt der Verkehrsexperte Chiou Yu-Chiun. Und die Auto- und Motorradfahrer beschwerten sich über den Platz, der ihnen weggenommen wurde.
Imagewandel des Velos
Dabei war das Fahrrad in Taiwan bis in die 1960er-Jahre ein wichtiges Verkehrsmittel. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wurde es jedoch vom Motorrad und dem Auto immer mehr verdrängt. «Das Velo galt nun plötzlich als Gefährt des armen Mannes», so Professor Chiou.
Seit wenigen Jahren erlebt das Rad jedoch einen erneuten Imagewandel. Mit hochqualitativen Fahrrädern signalisieren vor allem Freizeitradler einen modernen Lebensstil und Umweltbewusstsein. Der Abhängigkeit vom Auto habe dies jedoch noch keinen Abbruch getan, beklagt der Verkehrsexperte: «Viele laden ihre Fahrräder einfach ins Auto und fahren damit zu den Velowegen am Stadtrand.»