Herr Gebauer, Sie haben ein ganzes Buch über «Die Poetik des Fussballs» geschrieben. Worin besteht sie, die Poetik des Fussballs?
Poetik bedeutet das Machen. Im Fussball geht es um das kunstfertige Machen, das eine Poesie entfaltet. Also: Mit dem Fuss etwas zu tun, das unwahrscheinlich zu sein scheint und bei den Zuschauern Wohlgefallen auslöst.
«Poetik» könnte man auch anders verstehen: Dass sie lehrreich sein sollte, dass die Zuschauer nach dem Spiel etwas mitnehmen können. Gibt es das auch?
Dem Zuschauer ist es freigestellt, ob er nur Wohlgefallen mitnimmt oder eine Lehre zieht. Ich tendiere eher zu ersterem. Aber ich möchte, dass man die Tiefe des Fussballspiels versteht. Es ist zwar nichts anderes, als schöne Dinge mit dem Fuss zu machen. Aber es hat für uns einen tieferen Sinn: Zufall und Können werden in ein bestimmtes Verhältnis gebracht. In unserem Leben stehen wir immer in diesem Spannungsfeld. Und kein Spiel zeigt das so deutlich wie der Fussball.
Wenn im Stadion tatsächlich Poetik stattfindet – fehlt sie dann nicht im Sportjournalismus?
Ich finde, der Sportjournalismus beschreibt es zu selten. Er bringt eine minutiöse Chronik hervor und ist sehr nahe am Geschehen dran. Aber die Chronik sagt uns wenig. Was uns hingegen in Erinnerung bleibt, ist eine Gestaltung des Spiels, eine Form, die das Spiel angenommen hat, eine Tragik, eine Grösse oder ein Versagen. Aber dafür braucht man eine andere Sprache. Sportreporter schreiben für den Tag.
Spricht man von Fussball, spricht man oft auch von Integration und Völkerverständigung: Überwindet der Sport wirklich kulturelle Grenzen? Geht es nicht oft einfach um Geld?
Beim Fussball geht es natürlich nicht nur um Geld. Dass das Geld so dominierend ist, gehört zu den Themen des Sportreporters. Das ist vergleichbar mit Wirtschaftsjournalisten, die über den Preis eines Baselitz schreiben: Über das Bild und seine Komposition sagt es nichts aus.
Zur Völkerverständigung: Es gibt keine einzige Vereinsmannschaft an der Spitze Europas, die unter nationalen Gesichtspunkten homogen ist. Und es gelingt, diese Spieler in eine einheitliche Strategie einzubinden.
Das heisst: Es gibt den gelungenen Multikulturalismus und frappierende Assimilationen. Interessant ist, dass man diesen Erfolg bei einer erfolgreichen Mannschaft nie richtig wahrnimmt.
Auf der anderen Seite wird im Fussball auch viel Bosheit ins Spiel getragen, vor allem durch Fans, Hooligans und Ultras. In unseren Breitengraden ist die Gewaltbereitschaft besonders virulent – beispielsweise in Basel –, obwohl wir grundsätzlich in einer friedlichen Gesellschaft leben. Neben der Multikulturalität kommt da eine ganz stupide anti-kulturelle Bosheit zum Vorschein.
Die Begeisterung der Menschenmassen im Fussballstadion erinnert beinahe an eine Messe auf dem Petersplatz in Rom – ist Sport ein Religionsersatz?
Wieso denn Ersatz? In einem Universum, das viele Götter zulässt, kann man auch eine polyvalente Sportreligion haben. Ich selbst bin dennoch ein bisschen vorsichtig: Sport kann zwar bestimmte Züge einer Religion annehmen, aber Religion kennzeichnet sich wahrscheinlich dadurch, dass sie nachhaltig im Leben wirkt – und nicht nur für zwei Fussballsaisons.
Welche religiös angehauchten Riten gibt es dennoch im Sport?
Wir beschwören Sportler, die wir für Personen mit höheren Kräften halten. Diese «Heiligen» vermitteln zwischen einem Gott oder dem Guten, dem Erfolg. Das erhebt uns über das Los des einfachen Menschen. Es gibt auch die Anbetung, wenn Fans für eine Mannschaft schwärmen. Und es gibt eine Kraftübertragung, die charakteristisch ist für eine Religion nach Theorie des Soziologen Émile Durkheim: Eine Gemeinde überträgt Kraft auf Auserwählte, die wie Heilige behandelt werden. Nicht zu vergessen sind die liturgischen Momente: Vielen Gesänge haben Choral-Charakter. Das Lied «You Never Walk Alone» der englischen Fans etwa geht auf Matthäus 28,20 zurück. Auf dem Kontinent singen wir «Leuchte, Stern Borussia» oder «Schalke unser».
Welchen Sport treiben Sie?
Ich laufe.
Täglich?
Nein, das schaffe ich nicht (lacht). Aber ich versuche, zweimal in der Woche durch den Berliner Grunewald zu laufen. Meine Strecke ist etwa zehn 10 Kilometer lang. Ich laufe durch den stillen Wald, alleine mit Waldtieren. Und komme ausgeglichen und vergnügt zurück.