Anfang 2013 – neun Monate vor der Bundestagswahl und acht Monate bevor ich zum ersten Mal in meinem Leben Vater werde, beginne ich mir intensiv Gedanken über die Zukunft unserer Demokratie zu machen. In was für einem politischen System soll mein Kind aufwachsen und Entscheidungen zu treffen lernen?
Demokratie – erstarrt in Politiker-Phrasen
Mir scheint, dass die Errungenschaft unserer westlichen Demokratie zunehmend ermüdet, in Wahlkämpfen und Politiker-Phrasen erstarrt und dadurch vom Alltag immer mehr abgeschliffen wird. Warum gehen gerade immer mehr jüngere Menschen weniger zur Wahl? Weshalb spielt der so genannte Skandal eine grössere Rolle als der politische Inhalt?
Die Sehnsucht nach Veränderung schien eine Zeit lang greifbarer gewesen zu sein: Die Occupy-Bewegung, Erfolge der Piratenpartei in Deutschland, Bürgerinitiativen. Aber sie verebbt schon wieder, nur die Politikverdrossenheit – so scheint mir – bleibt. Mich trieb das Thema also um: In welcher Welt soll meine Tochter in Zukunft leben? Welche Möglichkeiten der Gestaltung wird sie haben? Ich beschloss, mich auf die Reise durch Europa zu machen, um engagierte Menschen zu treffen, die in verschiedenen Ländern das politische System mit neuen Ideen anreichern und inspirieren wollen – um unsere Demokratie wieder auf Vordermann zu bringen.
Auch Probleme der Demokratie aufzeigen
Auf der Leipziger Buchmesse treffe ich auf den amerikanischen Wissenschaftler Michael Hardt. Dessen sozialistischer Ansatz von der Vergemeinschaftung von Gütern und Ideen scheinen mir zwar nachvollziehbar, aber irgendwie gestrig.
Die Kolumnistin und Philosophin Regula Stämpfli, die ich auf dem Berner Hausberg treffe, sieht zwar die Schweiz als leuchtendes Beispiel in punkto Bürgerbeteiligung via direkter Demokratie. Sie thematisiert mir aber zu wenig die Probleme, die mit dieser direkten Demokratie auch verbunden sein können: Nicht jeder Bürger kennt sich zum Beispiel mit allen Themen gleich gut aus.
Spannend aber seltsam waren die fast schon esoterischen Stammes-Spielchen der Kaos Pilots School, an der nachhaltig wirtschaftende Unternehmer ausgebildet werden. Opposition gehört hier eher nicht dazu, denn der Stamm entscheidet immer als Ganzes.
Der Erneuerung des Systems aus freien Stücken verschrieben
Am meisten begeistert mich Reykjaviks Punk-Bürgermeister, der Isländer Jón Gnarr. Seit fast vier Jahren regiert der Ex-Comedien jetzt schon Islands Hauptstadt. Vielleicht, weil er es geschafft hat, auch als Politiker authentisch und warmherzig zu bleiben, ohne seine Haltungen den Lobbyisten anzupassen. Ich erlebe Jón Gnarr hautnah als Mann, der die nötige Leichtigkeit und den Humor mitbringt, den es auch braucht, um etwas zu verändern. Er nimmt sich Zeit, berichtet mir glaubwürdig von seinen Träumen und Hoffnungen. So erkenne ich in ihm keinen oberflächlichen Komiker sondern einen Menschen mit Herz und Seele. Ein Mensch, der den Mut hatte, selbst etwas anzupacken, mit Mut und Lust an der Sache – statt immer nur zu meckern.
Was mir vor allem auffällt auf meiner Reise und an den Menschen, denen ich begegne: Sie alle eint, dass sie keine reinen Berufspolitiker sind, sondern sich der Erneuerung des Systems aus freien Stücken verschrieben haben. Ihnen liegt etwas an der Welt, in der sie leben. Sie machen sich Sorgen, sie haben Ideen, sie wollen handeln. Aber dafür brauchen sie alle besondere Orte und Räume, an denen sie ihren Akku aufladen, um kreative Kraft zu schöpfen. Ob es der See samt Yoga bei Ökonom Christian Felber ist, die Kunst des grossen Malers Vermeer beim Sozialwissenschaftler Harald Welzer oder Jon Gnarrs Friedhof: Sie alle halten hier inne, erlauben sich Zeit für etwas Anderes zu nehmen, um zu zweifeln, zu verwerfen, gegen den Strich zu denken. Denn Demokratie braucht den Austausch.
Demokratie braucht den Austausch
Auf diese Weise entwerfen sie konkrete Vorschläge für eine Erneuerung unserer Demokratie, die manchmal vielleicht verblüffend naiv, aber hier und da schon wirkungsvoll angewendet werden. Ihr Engagement für eine bessere Welt berührt mich und schärft meinen Blick. Er zeigt, wie modern Demokratie heute noch immer sein kann, aber auch, wie sie sich wandeln muss: Sie braucht die ständige Zufuhr neuer Ideen, den Austausch, das Ausprobieren.
Und sie braucht Menschen wie mich und meine zukünftige Tochter, die ich zur mündigen Bürgerin erziehen möchte. Sie soll unsere Demokratie nicht konsumieren, sondern sie aktiv mitgestalten. Wenn es gelänge, ihr glaubhaft zu vermitteln, wie lohnenswert dies ist, wäre das ein ganz grosses Glück.