Roger Willlemsen, Sie sassen ein Jahr lang regelmässig auf der Zuschauertribüne im Deutschen Bundestag. Verstehen Sie die Demokratie jetzt besser?
Auf jeden Fall. Nach einem Jahr der Beobachtung aller Debatten habe ich einen guten Überblick über das gesamte Spektrum der Themen erhalten: von der Reparatur einer Schleuse, über die Beteiligung an einer Militäroperation in Mali bis hin zu Renten- und Finanzdiskussionen. Jetzt weiss ich, wie das Parlament funktioniert.
Gab es einen Schlüsselmoment, an dem Sie dachten: Aha, so funktioniert die Demokratie?
Von diesen Schlüsselmomenten gab es viele. In meiner allerersten Debatte im Bundestag wurden mir zwei Dinge klar, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie so wichtig sind. Zu meinem Erstaunen wurde permanent offen über den Lobbyismus gesprochen: Politiker diskutierten über die Tischordnung des Abendessens mit dem Agrarverband nicht im Hinterzimmer. Nein, sie machten gar keinen Hehl daraus, dass man vor Debatten ständig mit Interessenverbänden zusammen sitzt und Interessen wägt. Die zweite Einsicht waren die vielen Verweise auf die Medien. Ich realisierte, wie viele Diskussionen im Fernsehen vor einer grösseren Öffentlichkeit und zu einem früheren Zeitpunkt als im Parlament selbst geführt werden, und so das Parlament als Entscheidungsmitte an Kraft verliert.
Vertrauen Sie der Demokratie heute mehr oder weniger?
Ich vertraue der Demokratie weniger, so lange ich mich nur an den tagesaktuellen Nachrichtenjournalismus halte. Die Tagesschau berichtet jeden Abend 20 Sekunden aus dem Parlament. Diesen kurzen, vom Journalisten ausgewählten Ausschnitt halte ich somit für die parlamentarische Arbeit. Ich erfahre aber nicht, dass zum Beispiel am gleichen Tag eine Rede über die Grenze des Wachstums im Parlament gehalten worden ist. Die Tribünen im bestbesuchten europäischen Parlament sind immer leer. Journalisten verfolgen das Geschehen über die Parlamentskanäle statt vor Ort. Über unser eigentlich so gut dokumentiertes Parlament wissen wir wenig.
Die Schweizer haben mit der direkten Demokratie ein wichtiges Mitspracherecht. Hat die Mehrheit mit ihren Entscheiden immer Recht?
Nein. Die Demokratie ist auch nach Meinung Churchills ein fürchterliches System, aber es fällt ihm kein besseres ein. Zu den Mängeln der Demokratie gehört tatsächlich, dass sie die Mehrheit zwar quantifizieren, aber nicht qualifizieren kann. Insofern ist der leere Auftrag «ihr müsst zur Urne gehen» in diesem Moment hohl, in dem er nicht kombiniert wird mit «ihr müsst auch wissen, was und wieso ihr etwas wählt.» Erfüllen Wähler diese zweite Bedingung nicht, bleibt die Mehrheit tatsächlich «Stimmvieh».
Welche Nachteile sehen Sie in der direkten Demokratie?
Das System, das mehr Plebiszit zulässt, hat viele Vorteile. Das Problem des Schweizer Systems könnte sein, dass sich Wähler von medialen Stimmungen beeinflussen lassen. Die Schweiz hat bei der Abstimmung um Managerlöhne aus deutscher Sicht sehr überraschend entschieden. Ich realisiere also, dass nicht immer der gesunde Menschenverstand siegt, sondern das Volk sich informiert und seine Meinung ändert. Bei jeder Volksabstimmung stellt sich die Frage, wie gut sind die Wähler informiert? Welche Möglichkeiten der Information stehen ihnen offen, um wirklich eigenverantwortlich zu handeln? Meiner Meinung nach ist die Mündigkeit ein kostbares Gut, dessen Erfüllung viel Anstrengung abverlangt.
Können demokratische Prozesse mit der Schnelligkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen Schritt halten?
Ich tendiere nein zu sagen. Gerade auf dringende Fragen wie Wachstum und ökologischer Entwicklung kann die Demokratie bei der Umsetzung von Gesetzen nur langsam reagieren. Das ist fatal. Man könnte jetzt ketzerisch sagen, ein System wie China kann von heute auf morgen das Autofahren in Peking verbieten. In einer Demokratie geht das nicht: Alle Entscheide sind auf dem langsamen Wege der Volksabstimmungen durch zu bringen.
Kürzlich ist Christoph Blocher aus dem Nationalrat ausgetreten. Er bezeichnet die Arbeit als Parlamentarier als Nebensache und langweilige Zeitverschwendung. Das Parlament sei zu verbürokratisiert. Stimmen diese Aussagen mit Ihren Beobachtungen überein?
Wie so viele Aussagen von Herrn Blocher kann ich auch diese nicht nachvollziehen. Wie man so lange parlamentarische Arbeit machen kann und diese dann als langweilig erklärt, scheint mir doch eher nach persönlicher Kränkung. Er hätte ja schon viel früher zu dieser Einsicht gelangen können. Seine Bemerkung klingt in meinen Ohren nach antieuropäischem, antiparlamentarischem Widerstand, der immer wieder von rechts kommt. Da muss man sehr genau hinhören, ob das nicht letztlich antidemokratische Aussagen sind.