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Im Koma wegen Covid-19 Jonas Lüscher: «Wenn ich Coronademos sehe, macht mich das wütend»

Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher erkrankte im Frühling schwer an Covid-19 und wurde während sieben Wochen in ein künstliches Koma versetzt. Heute staunt er darüber, wie schnell die grossen Fragen rund um die Chancen dieser Krise in Vergessenheit geraten sind.

Jonas Lüscher

Philosoph und Schriftsteller

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Jonas Lüscher gehört zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern der Gegenwart. Er studierte unter anderem an der Hochschule für Philosophie München und an der ETH Zürich. Für seinen Roman «Kraft» erhielt er 2017 den Schweizer Buchpreis. Der 43-Jährige wuchs in Bern auf und lebt seit 2001 in München.

SRF: Sie hatten einen besonders schweren Verlauf der Covid-Erkrankung. Wie sah dieser aus?

Jonas Lüscher: Ich habe mich Mitte März angesteckt. Einige Tage später begannen die ersten Symptome: Husten, langsam steigendes Fieber. Mit 41 Grad Fieber wurde ich ins Krankenhaus gebracht, wo eine schwere Lungenentzündung diagnostiziert wurde. Dann hat man mich ins Koma versetzt, mit der invasiven Beatmung begonnen und an die Dialyse gehängt.

Weil es mir zusehends schlechter ging, wurde ich dann noch an eine Herz-/Lungen-Maschine angeschlossen. Nach sieben Wochen haben mich die Ärzte aus dem Koma geholt. Insgesamt verbrachte ich neun Wochen auf der Intensivstation und drei Wochen in der Reha.

Heute brauche ich keinen Sauerstoff mehr, bin aber immer noch sehr schnell ausser Atem. Ich hatte grosses Glück im Unglück.

Sie waren zuvor gesund, sind 43 Jahre alt, gehören keiner Risiko-Gruppe an: Haben die Experten mit ihren Prognosen und Einschätzungen versagt?

Als ich mich angesteckt habe, wusste man einfach sehr wenig über Covid-19. Heute ist das anders. Wir wissen zwar noch nicht weshalb, aber wir wissen, dass es auch jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen erwischen kann.

Wir wissen auch, dass Jüngere mit einem leichten Verlauf unter schweren Folgesymptomen leiden und dass Ältere und Patienten mit Vorerkrankungen ohne Corona vermutlich noch viele Jahre zu leben gehabt hätten. Den Begriff «Risikogruppe» finde ich übrigens seltsam.

Warum?

Weil ich mich frage, was das für Übergewichtige, Diabetiker oder eben Personen wie mich heissen soll. Pech gehabt, wir können und wollen uns eure Schwäche gerade nicht leisten? Heisst es in der Präambel unserer Verfassung nicht, die Stärke des Volkes messe sich am Wohl der Schwachen?

Auf wen sollen wir in einer solchen Situation hören als auf die Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft?

Daniel Koch, der Epidemiologe Marcel Salathé oder der deutsche Virologe Christian Drosten wurden zu regelrechten Stars in der öffentlichen Debatte. Haben denn die Richtigen das Sagen?

Auf wen sollen wir denn sonst in einer solchen Situation hören als auf die Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft? Auf Politikerinnen und Politiker bitte nur, wenn sich diese wiederum auf die Wissenschaft beziehen.

Ich wünsche mir vielmehr, dass auch Vertreterinnen und Vertreter der Gesellschaftswissenschaften und Ethik mehr Gehör finden.

Wieso?

Bevor ich krank wurde, hatte ich das Gefühl, dass viel über die «grossen Fragen» geredet wurde: Ich habe etwa lange Artikel gelesen, in denen amerikanische Geistesgrössen erklärt haben, was die Chance dieser Krise sei. Es wurde klar, dass man sich das Ende des Kapitalismus wieder vorstellen kann – vorher unvorstellbar.

Dann wurde ich ins Koma gelegt, wachte sieben Wochen später wieder auf und es war keine Rede mehr davon. Es braucht wieder mehr von diesen Diskursen.

Hat die «Stimme des Volkes» aus Ihrer Sicht überhaupt genug Gewicht?

Zum einen hoffe ich eigentlich, dass meine eigene Erkrankung meine Sicht auf die politischen und gesellschaftlichen Implikationen der Pandemie nicht massgeblich beeinflusst.

Zum anderen weiss ich eigentlich nicht, was das sein soll: «Die Stimme des Volkes». Das Volk hat viele Stimmen. Es tut doch gut daran, auf jene Stimmen zu hören, die etwas von einer bestimmten Sache verstehen.

Verschwörungstheoretiker und Corona-Kritiker verneinen nach wie vor den von der Politik genannten «Ernst der Lage»: Wie beurteilen Sie das als ehemals Erkrankter?

Wenn ich Leute sehe, die auf die Strasse gehen und gegen Corona-Massnahmen demonstrieren, dann erlebe ich das als Leugnung meiner eigenen traumatischen Geschichte. Das macht mich wütend.

Aber um zu sehen, dass das eine egoistische Haltung ist, muss man nicht erst erkranken. Es ist doch offensichtlich, dass wir es nicht so weit kommen lassen dürfen, dass ein zweiter Shutdown unumgänglich wird. Die sozialen Folgen wären verheerend.

Das Gespräch führte Christine Schulthess.

SRF1, Sternstunde Philosophie, 27.09.2020, 11:00 Uhr. ; 

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