Laut rauscht der Fluss Enguri am Ortseingang von Ushguli. Steil und gleissend drängt sich Georgiens höchster Berg in den Himmel von Swanetien. «Die Wand» nennen die Dorfbewohner den 5000 Meter hohen Schara, auf dessen Grat die Grenze zu Russland verläuft. Ein Kirchlein schaut von einer Anhöhe herab auf ein Gassengewirr, aus dem sich hie und da riesige Türme erheben. Wegen dieser Wohn- und Wehrtürme wurde Ushguli 1996 zum Weltkulturerbe erklärt.
Türme als Hotels?
Dato Ratiani, 45 Jahre alt, schiebt den Riegel zurück und betritt einen der Türme. «Dieser Turm hier stammt aus dem zehnten Jahrhundert. Das wissen wir von unseren Grossvätern, die dieses Wissen von Generation zu Generation weitergaben.» Ratiani ist im Schatten dieser Türme aufgewachsen. Im Untergeschoss des zweiten Turms melkt seine Mutter gerade eine Kuh. «Hier oben», sagt die 70-jährige Lia Ratiani, «müsse man arbeiten, solange man lebe». Sie mache noch alles von Hand, die Enkelinnen wollen das jedoch nicht, sie möchten nicht im Dorf bleiben.
Dabei könnten die Türme eine Zukunftsaussicht sein – auch für Ratianis Töchter. «Wir träumen von einer Entwicklung des Tourismus hier oben», sagt Dato Ratiani. Man müsste die Türme nur restaurieren und einrichten. «Zu Gast im Weltkulturerbe – das wäre doch was!», meint er begeistert.
Allein drei der kastellartigen Ungetüme gehören Ratianis Familie. «Bei Kriegen zwischen zwei Dörfern oder Sippen zog man sich in die Türme zurück und verteidigte sich, indem man von oben Steine und andere Dinge auf seine Gegner warf.»
Schon der griechische Philosoph und Feldherr Xenophon schrieb über die Ungetüme von Ushguli. Damals, 400 Jahre vor Christi, waren die mehrstöckigen Türme allerdings noch aus Holz.
Noch immer ungelöst – das Geheimnis der Türme
«Wenn Lawinen die Dörfer verschütteten, ragten die obersten Stockwerke noch immer aus dem Schnee. Seit dem zehnten Jahrhundert konnte kein noch so starkes Erdbeben den Türmen etwas anhaben.» Zudem sind die Türme so angeordnet, dass sie Schlammlawinen und Felsabgänge wie «Wellenbrecher» um das Dorf herumlenken. Ihr Geheimnis ist bis heute nicht endgültig entschlüsselt.
Möglicherweise liegt es in einer mathematischen Formel: Die Gesamtlänge der Grundseiten, also rund 30 Meter, entspricht meist der Höhe der Türme. Und obwohl sie sich nach oben verjüngen, liegen die Ecken des Fundaments auf einer Linie mit den Ecken des auf die Verjüngung aufgesetzten vierten Stockwerkes.
«In Ushguli stehen heute noch 30 Türme. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es 100», meint Ratiani. Dass seine Türme zum Weltkulturerbe gehören, macht ihn stolz. Doch ihr Verfall macht ihm Sorgen, denn er hat nicht das Geld, sie zu restaurieren. «Wenn nicht bald etwas geschieht, werden in Georgien schon bald nur noch wenige Türme an dieses kulturhistorische Erbe der Menschheit erinnern», meint Ratiani, bevor er beim Abschied das Tor des Turmes wieder schliesst.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 23.07.2015, 17:45 Uhr