«Es macht natürlich auch jede Menge Spass hier oben», sagt Julian Gross. Kletterer lassen sich gerade kopfüber vom Dach des Olympiastadions in München abseilen, bis sie in der Arena auf dem Asphalt stehen. Und ab und an rauscht ein Besucher am Stahlseil des «Flying Fox» 200 Meter vom Stadiondach hinüber zur Gegentribüne.
Hoch hinaus für einen Studentenjob
Julian, der ein wenig wie ein Surfer wirkt – mit den langen blonden Locken und dem entspannten Smile – verdient sich sein Studium im Olympiapark: Er führt Touristen und Besucher durch den Klettersteig auf dem «Zeltdach» des Olympiastadions. Julian passt blendend hierher.
Ursprünglich kommt er aus Rosenheim, südlich von München, Richtung Alpen. Er kennt also das Klettern. Vor allem aber ist er bald Bauingenieur der Technischen Universität München – und jobbt auf, an und in revolutionärer Architektur. Er wohnt sogar auf dem Olympiagelände, in einem der Bungalows, die 1972 Athleten beherbergten.
Als wäre er beim Anschlag dabei gewesen
Die Spiele damals hat der 24-jährige Julian Gross zwar nicht selbst erlebt, aber sein Verständnis für die Bauweise der Anlage bringt ihn wohl näher an diese Stätten, als das Erinnerungen an grosse Momente des Sports könnten. Er scheint die Atmosphäre von 1972 zu «atmen»: Wenn Julian über den Anschlag palästinensischer Terroristen auf das israelische Team spricht, dann leidet er sichtlich – wegen dem Verbrechen gegen die Opfer und den Spielen, die damit ihr Trauma erlitten.
Ein «neues Deutschland» – in der Architektur abgebildet
Denn die 20. Olympischen Sommerspiele sollten der Welt ein neues, anderes Deutschland zeigen: «Spiele im Grünen», «Spiele der kurzen Wege», und «Spiele der Demokratie» – als Gegenbild zu Hitlers Propaganda 1936 in Berlin. Deswegen das weite Rund des Stadions, das sich für jedermann öffnet, in die Landschaft schmiegt, und in dessen Design alle Farben auftauchen – ausser Rot, Schwarz (die deutsche Kriegsflagge) und Braun. Keine militärischen Anklänge, keine Reminiszenzen an Nazi-Uniformen, so hätten sich die Macher das gedacht, erklärt Julian.
Ein Sinnbild aus Leichtigkeit und Kraft
Er gerät ins Schwärmen über die Meisterleistung der Ingenieurskunst – ein «Zeltdach», leicht und transparent, an allerdings gewaltig tief im Boden verankerten Pylonen aufgehängt, das seine 75'000 Quadratmeter über drei Gebäude zu schwingen scheint – Olympiastadion, -halle und -schwimmbad.
Julian erklärt, welcher Druck auf der Stahlgeflecht-Konstruktion des Daches lastet. Und dann beschreibt er den Hochspannungsmoment, als sich alle Bauarbeiter und Konstrukteure drüben über der Gegentribüne versammelten, und miterlebten, als Kräne und Stahlseile das Zeltdach «losliessen» – das sich minutenlang bewegte auf der Suche nach den «Ruhepunkten», und das Aufatmen, als alles stehenblieb. Wie ein Sinnbild aus Leichtigkeit und Kraft.
Auch wenn Münchens Fussball inzwischen in einer neuen Arena rollt, hier war der Rasen olympisch, hier wurde Deutschland 1974 – zum zweiten Mal nach dem Wunder von Bern 1954 – Fussballweltmeister. Und insofern führt Julian die Besucher des Münchener Olympiastadions nicht nur durch und über kühne Architektur hinweg, sondern auch zurück in eine einzigartige Atmosphäre.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 31.7.2015, 17:45 Uhr