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In Komarowos Datschen Als sich stalintreue Künstler an der Ostsee tummelten

Um regimetreue Kulturschaffende zu belohnen, liess Stalin ein kleines Dorf in Karelien zur Feriensiedlung umbauen. Auch der Komponist Oleg Karavaichuk genoss die Sonnenuntergänge am Finnischen Meerbusen.

Lange Sandstrände, Pinienwälder, Dünen. Die Landschaft ist idyllisch. Etwa auf halbem Weg zwischen Sankt Petersburg und der finnisch-russischen Grenze liegt Komarowo.

Heute dominieren die nicht immer ästhetisch überzeugenden Villen der Schönen und (Neu-) Reichen das Dorf. Doch in der UdSSR war Komarowo der bevorzugte Kurort der staatstreuen sowjetischen Intelligenzija.

Plaudern mit illustren Gästen

Der Komponist Oleg Karavaichuk, der 2016 starb, verbrachte die Sommerfrische oft in Komarowo. Er erinnerte sich gerne an den Ort und an die illustren Gäste: «Ich kannte sie alle, den berühmten Autor Joseph Brodsky, den Liedermacher Solowjow-Sedoi, Dmitri Schostakowitsch. Aber die einzige Datsche, in der ich je war, war diejenige der Primaballerina Galina Ulanowa.»

schwarzweiss Bild eines doppelstöckigen Holzhauses, davor Sträucher, dahinter ein Wald.
Legende: Die Familiendatsche von Dmitri Schostakowitsch. Der Komponist landete aber zweitweise auf der schwarzen Liste des Regimes. SRF / Oleg Karavaichuk – Der letzte Walzer

Bis abends um sechs wurde geschrieben und komponiert, danach traf man sich auf der Hauptstrasse Kurortnaja, um sich auszutauschen – und den späten Sonnenuntergang zu geniessen, wie sich der Komponist Oleg Karavaichuk auf einem Rundgang erinnert.

Tummeln in finnischen Datschen

Als die Region Karelien nach dem Winterkrieg 1940 der UdSSR zugeschlagen wurde, beschloss die sowjetische Akademie der Wissenschaften, den bereits unter den Finnen beliebten Ferienort auszubauen. Die Holzhäuser wurden in Finnland gebaut – als Kriegsreparation. Die Sowjets liessen die Häuser vor Ort zu Datschen, Wochenendhäusern, zusammenbauen.

Fortan tummelten sich in den warmen Sommermonaten Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch und Oleg Karavaichuk, Autorinnen wie Lydia Tschukowskaja und Anna Achmatowa sowie namhafte Wissenschaftler an der Ostsee.

Der Staat gibt, der Staat nimmt

Wer in Komarowo eine Datsche zugeteilt bekam, war systemtreu. Galina Ulanowa beispielsweise war als Tänzerin mehrmals mit dem Stalinpreis ausgezeichnet worden.

schwarzweiss Foto einer elegant frisierten Frau, stehend, in seidige Tücher gehüllt, schaut nachdenklich nach unten.
Legende: Galina Ulanowa (1910 – 1998) galt als eine der herausragendsten Ballettänzerinen und wurde als «Primaballerina assoluta» ausgezeichnet. SRF / Oleg Karavaichuk – Der letzte Walzer

Aber das Privileg einer Ferien-Datsche konnte man auch schnell verlieren. Jeder und jede konnte bei der sowjetischen Führung über Nacht in Ungnade fallen. Von Dmitri Schostakowitsch weiss man, dass er jahrzehntelang auf gepackten Koffern sass, weil er damit rechnen musste, von der Geheimpolizei abgeholt zu werden.

Schönheit und Repression

Auch Oleg Karavaichuk lebte mit dieser Unsicherheit. Obwohl er als Siebenjähriger vor Stalin aufgetreten war und damit seinen Vater vor dem Straflager gerettet hatte. Doch weil sich der exzentrische Pianist bei seinen Konzerten oft einen Sack über den Kopf zog, galt er als «verrückt» und wurde mit einem Auftrittsverbot bestraft. So verlegte sich der 1927 in Kiew geborene Karavaichuk auf das Komponieren von Filmmusik.

älterer Mann mit kinnlangen Haaren und Mütze, schaut in Kamera.
Legende: Oleg Karavaichuk (1927 – 2016) schrieb die Musik für gut 200 Filme, Aufführungen und Ballette. SRF / Oleg Karavaichuk – Der letzte Walzer

Einem breiteren Publikum wurde Karavaichuk erst ab den 1980er-Jahren bekannt, als er in den Westen reisen durfte, in London auftrat und dort die Musikwelt begeisterte.

Über die Sowjetunion verlor er dennoch kein böses Wort. Den Ferienort Komarowo betrachtete er als Geschenk der Sowjetführung: «Stalin sah die Schönheit dieses Ortes und wollte ihn begabten Menschen in der UdSSR zugänglich machen. Er gab ihnen Schönheit. Jetzt wird das alles zerstört. Es geht um Komfort, nicht um Poesie. Die Häuser sehen aus wie amerikanische Ranches. Furchtbar.»

SRF 1, Sternstunde Musik, 02.01.2022, 12:00 Uhr

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