Den Begriff «Elite» möchte sich fast niemand überstülpen lassen – so nimmt ihn etwa Bernd Westermeyer, Leiter der «Le Régent International School» in Crans-Montana (VS), nicht in den Mund. Auch nicht Dominik Belser, Kommandant der Panzer- und Artillerie-Offiziersschule 22 in Thun. Genauso wenig eine Absolventin des Masterprogramms «Strategy and International Management» der Universität St. Gallen, die lieber anonym bleiben möchte.
Sie alle sagen: «Ich bin nicht die Elite.» Und doch kann man anhand ihrer Aufstiegswege und Positionen viel über gesellschaftliche Verantwortung lernen.
Verflechtung von Wirtschaft und Politik
In der Geschichte der Schweizer Wirtschaftselite habe sich in den letzten Jahrzehnten viel getan, sagt die Historikerin Stéphanie Ginalski. Sie forscht an der Universität Lausanne am Institut «Observatoire des élites suisses», das sie 2015 mitbegründet hat.
So wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die hiesigen Banken und Grossunternehmen primär von Schweizern geführt. «Diese wiederum waren nah an der Politik dran», sagt Ginalski. Wirtschaft, Politik und Verwaltung waren eng miteinander verflochten.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts brach diese Verflechtung zunehmend auf. «Im Zuge der Globalisierung und Marktliberalisierung sind seit den 1980er-Jahren immer mehr Manager, CEOs und Vorstandsvorsitzende aus dem Ausland angeworben worden.» Damit begann die enge Verbandelung zwischen Politik und Wirtschaft zu bröckeln.
An unserer Internatsschule lernt man nicht bloss von 8 bis 13 Uhr, sondern die ganze Woche, Tag und Nacht.
Im Internat lernt man 24/7
Früher war es die Beziehung zur Politik – heute ist die internationale Ausrichtung einer Laufbahn zentral für Wissensvorsprung, Aufstieg und Erfolg. Das fängt früh an. An der «Le Régent International School» lernen bereits Vierjährige die Vorteile einer «flexibel angelegten ganzheitlichen Lernumgebung» kennen, wie es Leiter Bernd Westermeyer formuliert. «An unserer Internatsschule lernt man nicht bloss von 8 bis 13 Uhr, sondern 24/7, das heisst die ganze Woche, Tag und Nacht.»
Auf 1500 Meter Höhe, in der Walliser Gemeinde Crans-Montana, entlang von Spa-Hotels und einem Golfplatz, erstrecken sich die Internatsgebäude. Von den Klassenzimmerfenstern kann man die Skilifte auf den Alpengipfeln erkennen.
Die Schule wirbt auf ihrer Website damit, in einer der sonnigsten und sichersten Gegenden der Schweiz zu liegen. «Angesichts der Welt, in der wir derzeit leben, möchten Eltern, dass ihre Kinder ‹krisensicher› gross und gleichzeitig gut ausgebildet werden», sagt Westermeyer.
Es geht nicht nur um die Möglichkeit, einen renommierten internationalen Abschluss zu erwerben. Es geht auch darum, die jungen Menschen zu erziehen: Während sozialer Dienste bei der Feuerwehr, im Krankenhaus oder im Pflegeheim sollen die Schülerinnen und Schüler Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen.
Pfiffig und über dem Durchschnitt
Einerseits gibt es in «Le Régent» unangekündigte Drogentests, verpflichtende Wanderungen bei jedem Wetter und feste Lern- und Schlafenszeiten. Andererseits sollen die Kinder lernen, sich frei eine Meinung zu bilden und ihre Passion für einen Beruf zu finden. Wenn Eltern den Internatsleiter nach Durchschnittsnoten der Schule fragen, fragt er zurück: «Wollen Sie, dass Ihr Kind Durchschnitt ist?»
«Wir wünschen uns nicht die leistungsstärksten, sondern die interessantesten Schülerinnen und Schüler», sagt der Internatsleiter. Öfters fällt das Wort pfiffig. Die Aufnahmeprüfung umfasse einen Mathetest und Gespräche. Westermeyer weigert sich aber, von einer «Auswahl nach Qualität» zu sprechen.
«Und sollte es bei tollen Schülern am Geld scheitern, würde ich immer versuchen, ein Leistungsstipendium zu organisieren.» Ein Internatsjahr kostet immerhin bis zu 105'000 Franken. Stipendien gebe es bisher aber kaum.
Führungsqualität durch Militärerfahrung
Die wichtigsten Köpfe der Schweizer Wirtschaftselite waren einmal Offiziere bei der Armee. Das fand Stéphanie Ginalski in ihrer Elitenforschung heraus. «Man ging davon aus, dass Männer mit Rang und Namen in der Armee Führungsfähigkeiten und Disziplin besitzen», sagt die Historikerin.
Auch Bernd Westermeyer hat zwei Jahre lang im Militär gedient: «Ich habe mein ganzes Schulleben sehr von meinen Militärerfahrungen profitiert und mich stets so organisiert, wie ich es in der Truppe gelernt habe.»
Disziplin und Leistung im Militär
Führungsqualitäten sind in der Schweizer Armee nach wie vor eine wichtige Fähigkeit. Im Unterschied zum internationalen Internat oder zu einer renommierten Wirtschaftshochschule können in die Armee jedoch alle eintreten, die möchten. Es kostet nichts. Zum Aufstieg verhelfen besondere Leistungen und Disziplin. Für das Kommando Spezialkräfte oder den Kampfjetpilot braucht es hingegen ausserordentlich physische und kognitive Stärken, sagt Kommandant Dominik Belser.
In Belsers hellem Büro in Thun hängen selbst gemalte Bilder. Er hat einen Abschluss der Kunstgewerbeschule, sein Vater war Geschichtslehrer. Gleichwohl überzeugte ihn der Militärdienst: «Ich hatte viel Gestaltungsspielraum. Das hat mich gereizt.»
Zur Armee kommen immer noch viele junge Menschen mit der Erwartung, ein hartes Training, eine persönliche Grenzerfahrung zu machen.
Zur Elite zu gehören, bedeutete beim Militär lange Zeit, einen bestimmten Waffentyp zu beherrschen. Das sei in den 1990er-Jahren ein hocheffizientes Flugabwehrsystem gewesen, so Belser. Mit der Etablierung eines Cyberkommandos erklärten dann plötzlich 20-Jährige den Älteren militärische Strategien. Damit begannen die hierarchischen Strukturen zu bröckeln.
Die Führungsstrukturen beim Militär sehen vor, dass Entscheidungen sofort umgesetzt werden. An dieser undurchlässigen Organisation zweifelte Belser früh: «Die Armee kann nur effizienter werden, indem sie flexibler wird.» Doch kann ein so elitärer, durchstrukturierter Militärapparat aufgebrochen werden?
«Wir brauchen keine Rambos»
Belser ist davon überzeugt, auch wenn es herausfordernd ist. Es müsse sich nicht nur das Bild nach innen verändern, sondern auch nach aussen hin. «Zur Armee kommen immer noch viele junge Menschen mit der Erwartung, ein hartes Training, eine persönliche Grenzerfahrung zu machen. Mit dem Ziel, einen Status zu erlangen, in dem man sich verteidigen und behaupten kann.»
Aber: «Wir brauchen keine Rambos», sagt Belser. Er visiert ein funktionierendes Kollektiv an, indem sich die Einzelnen gegenseitig stärken. In den Workshops sitzt man heute auch mal in Alltagskleidung im Kreis, statt in Uniform in Reihen. Wenn es nach ihm ginge, braucht es eine Elite, die sich als «kollektive Selbstverteidigungsorganisation» begreift und demokratische Werte schützt.
Wandel der Voraussetzungen
Ein Grossteil der Schweizer Wirtschaftselite Anfang des 20. Jahrhunderts war, so Historikern Stéphanie Ginalski: männlich, aus der Oberschicht, mit abgeschlossenem Studium in Jura oder Ingenieurswissenschaften oder einer Ausbildung im Bankenwesen, dazu Militärerfahrung. Mittlerweile habe mit der bereits angesprochenen Internationalisierung das Studium der Betriebswirtschaftslehre an Bedeutung gewonnen.
Szenewechsel in die Ostschweiz: Das Masterprogramm «Strategy and International Management» an der Universität St. Gallen gilt als das Beste der Welt. Allein die Aufnahme ist ein Triumph. Das durchschnittliche Einstiegsgehalt der Alumni liegt bei 138'000 US-Dollar.
Der Erwartungsmarathon
Eine Absolventin, die hier Nathalie Ku heissen soll, arbeitet in leitender Position in einem Schweizer Unternehmen. Sie hat heute Führungsverantwortung für rund zehn Leute.
Sie beschreibt das Gefühl in diesem Erwartungsmarathon wie folgt: «Wenn man in europäischen Schulen gute Noten hat, bekommt man den Stempel ‹Streber›. Dann kämpft man sich hoch – nicht unbedingt, weil man das selbst wollte – geht an eine renommierte Uni, weil das der Pfad vorgibt und bekommt den Stempel ‹Elite› – gegen seinen Willen.»
Eine Aus- oder Bezeichnung also, die auch viel Druck auslöst und nicht unbedingt mit Stolz getragen wird. Dennoch werben gerade Hochschulen wie die in St. Gallen ungeniert mit Exklusivität, präsentieren sich demonstrativ als «Eliteuniversität».
Entsprechend treten Universitätsleiter und Rektorinnen etwa bei Begrüssungsreden auf. «Manche Personen, die dann zuhören, versinken vor Scham im Stuhl», sagt Ku. Sie spricht von einer menschlichen Reaktion, wenn neu aufgenommenen Mitgliedern das Gefühl vermittelt wird, sie seien etwas Besonderes – weil die Institution selbst etwas Besonderes sein möchte.
Viele haben das Gefühl, sie arbeiten viel, bekommen aber kaum die Chance, etwas zu verändern.
Eine neue Generation Elite?
Die Antwort auf die Frage, wer eigentlich die Elite ist, ist womöglich je nach Generation eine andere: Ein hochrangiger Offizier mit vielen Orden. Eine Internatsschülerin mit Prada-Tasche und privatem Helikopter. Ein CEO, der über Entlassungen entscheidet. All diese Zuschreibungen gibt es, genauso existiert jedoch auch eine Kritik daran. Absolventin der Universität St. Gallen, sagt Ku. «Viele haben das Gefühl, sie arbeiten viel, bekommen aber kaum die Chance, etwas zu verändern.»
Nicht alle sind mehr bereit, es so zu machen, wie es die vorherigen Generationen vorgegeben haben. «Das würde bedeuten, im ähnlichen Stil zu arbeiten, zu kommunizieren und ähnliche Werte zu vertreten», sagt Ku. «Oder verlassen wir das System, bauen unser eigenes auf oder suchen andere Organisationen, die sich mehr mit unseren Werten vereinbaren lassen?»
Im CEO- und Managementbereich könnte das bedeuten, zum Beispiel eine kleine Arztpraxis betriebswirtschaftlich zu leiten, anstatt Teil eines multinationalen Konzerns zu sein. Denn die Frage, die sich heutige sogenannte «Elite»-Vertreterinnen und -Vertreter vermehrt stellen, lautet: Muss man zum absoluten Top gehören? Oder ist es nicht vielmehr erstrebenswert, vorne mit dabei zu sein, um damit Veränderungen herbeizuführen?
Ein Blick in die Datenbank, die Stéphanie Ginaslki mit Forschungskolleginnen und -kollegen aufgebaut hat, zeigt einen eindeutigen Status Quo. Zwei Klicks benötigt die Historikerin, dann kann sie sagen: Die Unternehmen UBS, Roche, Nestlé und Glencore sind heute Schweizer Wirtschaftselite. Alte Bekannte also. Die Elite befindet sich zwar im Wandel – ob und wann dies merklich sichtbar wird, bleibt abzuwarten.