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Gesellschaft & Religion Internetzensur in der Türkei: Zwei Schweizer Künstler helfen

Die Schweizer Internetkünstler Mathias Jud und Christoph Wachter plädieren dafür, sich auch online nicht den Mund verbieten zu lassen. Ihre Software «Qaul» hilft dabei. Sie stellt selbst dort Netzwerke her, wo das Internet gesperrt ist – wie kürzlich in der Türkei.

Die türkische Regierung scheint fest entschlossen, ihren Bürgern bis ins Detail vorzuschreiben, welche Webinhalte ihnen gut tun und welche nicht. Zuerst lancierte sie ein Internetgesetz, das die sekundenschnelle Abschaltung von Websites mit ungewünschtem Inhalt ermöglichte. Dann kam die landesweite Sperrung des Nachrichtendienstes Twitter. Kurz darauf auch Youtube. Mehr als 40 000 Internetseiten sind am Bosporus inzwischen gesperrt.

Inzwischen hat die Türkei die international scharf kritisierte Blockade des Online-Kurznachrichtendienstes Twitter nach zwei Wochen aufgehoben. Die Sperrung von Youtube ist noch aktiv, hier stehen Gerichtsentscheidungen noch aus.

Preisgekrönte Software-Wunderwaffe

Die Sperrung von Internetseiten ist mehr als nur ein Eingriff in die elektronische Freiheit von 70 Millionen Menschen. Es ist eine Attacke auf ihre Möglichkeit, die Welt zu erfahren, sich auszudrücken und zu kommunizieren, findet der Schweizer Christoph Wachter, der einst vom bildenden Künstler zum Softwareentwickler wurde. «Diese Massnahmen sind so gravierend, weil sie in unserer digitalen Kommunikationsgesellschaft regelrecht Stücke aus unserer Sprache herausreissen.»

Schema, wie Qaul funktioniert.
Legende: Qaul verbindet Geräte direkt über ihr WLAN-Signal. Router, Provider und Server sind überflüssig – Blockaden unmöglich. qaul.net

Christoph Wachter und Mathias Jud brachen deswegen vergangene Woche mit ihrer preisgekrönten Software-Wunderwaffe «Qaul» an den Bosporus auf. Ein W-Lan-fähiges Gerät und ihr kleines, kostenloses Programm. Mehr braucht es nicht, um Regierungen in China, Nordkorea oder der Türkei ein Schnäppchen zu schlagen und sogar im Falle einer völligen Internetblockade weiter zu kommunizieren. «Denn jeder Laptop, jedes Smartphone sendet ein Signal», erklärt Jud. «Selbst ohne Internetverbindung».

Überrascht vom Interesse in der Türkei

Wenn zwei «Qaul»-Nutzer nicht allzu weit voneinander entfernt stehen, können sie so über ihre W-Lan-Verbindung kommunizieren. Keine zwischengeschaltete Ebene – wie ein Internetprovider oder ein Nachrichtendienst wie Twitter – wird dafür gebraucht. Die Verbindung entsteht ganz direkt. Und jeder weitere «Qaul»-Teilnehmer in der Umgebung trägt das Signal weiter. Je mehr Nutzer, desto grösser also der Kommunikationsradius.

Eine Selbstgebastelte Antenne am Bosporus.
Legende: Selbstgebastelte Antennen («Cantennas») sorgen für mehr Reichweite der privaten Netze wie «Qaul». Luise Sammann

In den letzten Tagen haben Wachter und Jud ihr Programm nun in Istanbul vorgestellt, mal mit Internetaktivisten, mal mit Kulturschaffenden diskutiert. Das Interesse an ihrer Arbeit überraschte sie selbst, dabei ist es wohl alles andere als ein Zufall: Ausgerechnet Erdogans Bürger gelten als extrem internetaffin – sogar als Europameister in der Facebook-Nutzung. Die Internetsperren der vergangenen Woche haben dort zu Protesten geführt und viele von ihnen zum Nachdenken gebracht.

«Qaul» soll zum Nachdenken anregen

Wachter und Jud treffen darum mit ihrem Programm genau ins Schwarze. Denn im Gegensatz zu Angeboten wie Twitter, Facebook oder Whatsapp, geht es bei «Qaul» nicht ums Geldverdienen. Auch die Zahl derer, die «Qaul» tagtäglich gebrauchen, ist für die Internetkünstler nicht entscheidend. Stattdessen wollen sie Debatten anstossen, zum Nachdenken anregen, Alternativen aufzeigen.

Das klappt kaum irgendwo so gut wie in Ländern, in denen die Freiheit des Internets in akuter Gefahr ist. Was ein DNS-Dienst oder ein Proxyserver ist, das kann einem in Istanbul inzwischen manche Hausfrau erklären. Wachter lacht: «Wenn man das Wissen über Netzwerke fördern will, dann muss man sie vielleicht einfach abschalten. Denn dann verbreitet sich das Know-How unglaublich schnell, wie man hier in der Türkei im Moment sieht.»

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