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Interview mit Philosophin Zerstören die Sozialen Medien Empathie?

Im Ukraine-Krieg zeigen viele Menschen Betroffenheit – auch in den Sozialen Medien. Aber können wir virtuell wirklich mitfühlen? Empathie im Netz sei schwierig, aber möglich, sagt Philosophin Susanne Schmetkamp.

Susanne Schmetkamp

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Susanne Schmetkamp ist Assistenzprofessorin für Philosophie an der Universität Fribourg. Sie leitet einen Forschungsprojekt zur «Ästhetik und Ethik der Aufmerksamkeit», gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds.

Sie wurde an der Universität Bonn mit einer Arbeit über Respekt und Anerkennung promoviert. Ihre Schwerpunkte sind Aufmerksamkeit, Empathie, Respekt, ästhetische Erfahrungen, Filmphilosophie. Schmetkamp arbeitet auch als Autorin und Moderatorin. Zuletzt ist bei ihr im Junius-Verlag eine Einführung zu «Theorien der Empathie» erschienen. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.

SRF: Am Weltgeschehen nehmen wir heute über die Medien teil und sind fast zeitgleich dabei, wenn im Krieg in der Ukraine Bomben fallen. Was passiert dabei mit uns?

Susanne Schmetkamp: Zunächst ist es positiv, dass wir bei der stark beschleunigten Verbreitung von Texten und Bildern schnell und reichhaltig informiert werden. Die Sozialen Medien, wo alle ein Foto der laufenden Ereignisse posten können, ermöglichen es uns, quasi live dabei zu sein.

Die Sozialen Medien können einen Voyeurismus bedienen.

Das kann aber auch einen Voyeurismus bedienen und eine seltsame Faszination auslösen. Manche Katastrophen erscheinen als ästhetisierte Inszenierung, um eine bestimmte Bildgewalt zu erzielen.

Zum Beispiel?

Die Flugzeuge, die 2001 ins World Trade Center geflogen wurden. Oder das Bild des syrischen Jungen Alan Kurdi, der mit seiner Familie auf der Flucht übers Mittelmeer ertrank und tot an die türkische Küste gespült wurde. Dieses Foto hat starke Betroffenheit ausgelöst und manche Menschen aufgerüttelt.

In den Sozialen Medien können alle auf ein Ereignis mit Kommentaren reagieren. Wir teilen das Leid im Netz. Fördert das die Empathie?

Ich denke schon, dass dadurch bei einigen Menschen das Mitgefühl verstärkt wird, wenn sie bereit sind, sich in andere hineinzuversetzen. Andererseits werden in den Sozialen Medien sehr üble Kommentare hinterlassen, mit denen aktuell vor allem ukrainische Frauen konfrontiert sind.

Um empathisch zu sein, braucht es die Bereitschaft, einer Person sensible Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Diese Haltung bleibt in der kurzatmigen Kommunikation in den Sozialen Medien meist auf der Strecke. Sind Facebook und Co. für eine Kultur der Empathie die falschen Kanäle?

Nicht unbedingt. Es kommt auf unsere Einstellung und Kommunikationsform an. Entscheidend ist, ob wir in der Lage sind, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, und dass wir dabei nicht von uns auf andere schliessen.

In den Online-Medien fehlt dafür oft eine wichtige Bedingung: einer anderen Person ins Gesicht blicken zu können. Das echte Hinblicken, das Zuhören und das Lesen der Gefühle und Gedanken anderer sind schwierig, können aber gelernt werden.

Zugleich scheint die Selbstdarstellung in den Sozialen Medien eine bevorzugte Kommunikationsform zu sein, die darauf aus ist, immer mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die zunehmende Selbstdarstellung ist ein modernes Phänomen, das auf einem ausgeprägten Individualismus aufbaut. Wir sind fast gezwungen, uns selbst darzustellen. Das nimmt zum Teil erschreckende Ausmasse an, wie auf TikTok und Instagram sichtbar wird.

Die Digitalisierung fördert bestimmte Arten von Aufmerksamkeit.

Dort geht es eigentlich nur darum, Aufmerksamkeit zu generieren. Die Digitalisierung hat zu einer spezifischen Dynamik geführt: Bestimmte Arten von Aufmerksamkeit werden gefördert, andere vernachlässigt.

Aufmerksamkeit gibt es auch für jene, die im Netz Hassreden verbreiten und andere Menschen denunzieren. Zerstören die Sozialen Medien Empathie?

Tatsächlich ist es so, dass Hassreden und Fake News für grosse Aufmerksamkeit sorgen. Solche Reden können in den Sozialen Medien durch Algorithmen so gesteuert werden, dass sie im Netz in den Vordergrund rücken.

Aufregung und Empörung stehen einer empathischen, nicht egozentrischen Aufmerksamkeit jedoch im Weg. Gleichzeitig aber besteht in unserer Gesellschaft ein grosses Bedürfnis nach einer anderen, tiefergehenden Aufmerksamkeit.

Das zeigt sich in den Trends zu Meditation, Yoga und mehr Achtsamkeit. Diese verschiedenen Formen der Aufmerksamkeit werden auch weiterhin unsere Gesellschaft prägen.

Das Gespräch führte Sabine Bitter.

Buchhinweis

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Susanne Schmetkamp: «Theorien der Empathie zur Einführung». 2019, Junius-Verlag.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 20.04.2022, 09.00 Uhr ; 

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