- Seymour Hersh gilt seit vielen Jahren ein unbequemer Journalist in Washington .
- Mit seinen Recherchen deckte er Kriegsverbrechen und Folterskandale auf. Einige seiner Thesen sind umstritten .
- Er will sich auch nach seinem 80. Geburtstag nicht zur Ruhe setzen .
Im Regierungsviertel von Washington D.C. hat der grossgewachsene Reporter seit vielen Jahren ein winziges Büro. Der hagere, freundliche Riese mit weissem, schütterem Haar trägt einen dunkelblauen Pullover, abgewetzte Jeans und Turnschuhe. Untypisch für jemanden, der bald 80 wird: Seymour Hersh – eine Leitfigur des investigativen Journalismus in den Vereinigten Staaten.
Für seine Zeitungsartikel zum Massaker von My Lai während des Vietnam-Krieges bekam er 1970 den renommierten Pulitzer-Preis. 1973 beschrieb er für die New York Times, wie die CIA im Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in Chile mitmischte.
Er wies nach, dass die USA Atomprogramme in Israel und Pakistan heimlich unterstützten. Hersh enttarnte gefälschte Dokumente, die die Existenz von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen belegen sollten. 2004 deckte Hersh die Folterungen im US-Militärgefängnis von Abu Ghraib auf – Geschichten, von denen Journalisten ein Leben lang träumen.
Journalist per Zufall
Seymour Myron Hersh wurde 1937 als Sohn jüdischer Immigranten in Chicago geboren. An Gespräche über den Holocaust, über Diskriminierung und Antisemitismus kann er sich nicht erinnern. Die Eltern sprachen über Kommunismus, über soziale Gleichberechtigung. Religion war kein grosses Thema.
Zum Journalismus kam er nach dem Ende seines Studiums an der Universität von Chicago durch Zufall. Für 35 Dollar die Woche arbeitete er 1959 bei CBS in Chicago zunächst als Polizei- und Gerichtsreporter. Schon damals zeigten sich drei Eigenschaften, die ihn bis heute auszeichnen: seine Fähigkeit, andere dazu zu bringen, sich ihm anzuvertrauen, sein Hang, Akten und Dokumente akribisch durchzuarbeiten und sein Problem mit Vorgesetzten und Hierarchien.
Ein Getriebener
Während die Kollegen ihre Informationen vorzugsweise aus Pressemitteilungen bezogen, suchte Hersh direkt Beteiligte auf.
So arbeitet er noch heute: Über Jahrzehnte hat sich Hersh einen Stamm von Informanten aufgebaut: darunter Angestellte, die beim Militär arbeiten, im Pentagon, in den Bundesbehörden und Geheimdiensten. Die meisten kommen aus der mittleren Führungsebene. «Denn je höher du in der Hierarchie kommst», sagt Hersh, «desto weniger erfährst du.»
Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Notizblöcke, Bücher, herausgerissene Zeitungsartikeln und Manuskriptseiten. Ein Getriebener, rastlos, der noch mit 80 Jahren auf seinem Drehstuhl hin und her zappelt und mit dem Telefonhörer in der Hand geboren zu sein scheint.
Mit Sorge verfolgt Hersh die zunehmende Kommerzialisierung der Medien in den USA. Die Vermischung von Information und Unterhaltung ist ihm zuwider.
Enthüllungen und Vorwürfe
Aufsehen erregte Hersh Anfang 2014 mit neuen Enthüllungen: Demnach war nicht – wie die US-Regierung behauptete – das Assad-Regime für einen Giftgas-Einsatz 2013 im syrischen Ghouta verantwortlich. Vielmehr ging der Massenmord auf das Konto der islamistischen Al-Nusra-Front. Strippenzieher im Hintergrund sei das türkische Militär gewesen, so Hersh – mit dem Ziel, die USA zu einem Militärschlag gegen Assad zu bewegen.
2015 bezichtigte Hersh den damaligen US-Präsidenten Barack Obama der Lüge: Nicht jahrelange Geheimdienstarbeit habe auf die Spur eines Kuriers und damit zu Osama bin Laden geführt. Es sei ein Deserteur des pakistanischen Geheimdienstes gewesen, der gegen Zahlung eines Millionen-Kopfgeldes den Aufenthaltsort des Al-Qaida-Chefs preisgab. Mehr noch: Die Pakistanis, so Hersh, hätten bin Laden schon 2006 gefasst und in Abbottabad mit Unterstützung Saudi-Arabiens versteckt und gefangen gehalten.
Diese These von Hersh ist bis heute umstritten. Vor allem Obama, aber auch Militäranalytiker und viele internationale Medien haben ihr widersprochen.
Noch lange nicht reif für die Rente
Allein gegen die «Regierungs-Mafia» in Washington, das ist die Rolle, in der sich Hersh selbst sieht. Er habe in so ziemlich jeder Frage eine andere Position als die meisten US-amerikanischen Kollegen, sagt Hersh. Etwa bei Konflikten in Syrien, in der Ukraine oder Russland. Und er kritisierte seine Kollegen von der «Washington Post» und der «New York Times»: Diese US-Medien hätten voreilig die Geschichte von russischen Hackerangriffen während des US-Wahlkampfes 2016 übernommen. Gleichzeitig missbilligt er die Attacken gegen die Medien seitens der Trump-Regierung.
Auch deshalb denkt er trotz seines Alters noch immer nicht ans Aufhören. Hersh könnte sich zur Ruhe setzen oder an der Universität Vorlesungen über investigativen Journalismus halten. Stattdessen hält er an seinem Credo fest: Die Mächtigen sollen wissen, dass sie kontrolliert werden!
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 06.04.2017, 09:02 Uhr