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Emanzipation des Staates Irland befreit sich aus den Klauen der Kirche

Unter katholischem Einfluss hat Irland jahrzehntelang alle Andersartigen ausgegrenzt. Das hat sich geändert.

Das Wichtigste in Kürze

  • Irland emanzipiert sich vom Einfluss der katholischen Würdenträger und Orden.
  • Ein neues Gesetz erlaubt es dem irischen Staat, die nationalen Spitäler zu kontrollieren.
  • 2015 hatte Irland die gleichgeschlechtliche Ehe legitimiert – 2018 soll das Abtreibungsverbot liberalisiert werden.

Die irische Regierung hat, gerade noch vor der Sommerpause, einen Gesetzesvorschlag gebilligt, der die grossen, nationalen Spitäler der Kontrolle durch den Staat unterstellt. Bisher waren diese Institutionen von katholischen Würdenträgern oder Orden gelenkt worden.

Im Frühjahr war ein Sturm der Empörung ausgebrochen, als bekannt wurde, dass das neue nationale Frauenspital in Dublin ins Eigentum von katholischen Nonnen übergehen werde, obwohl der Staat für sämtliche Baukosten aufkommen wird. Die Nonnen zogen sich schliesslich zurück.

Für die Abtreibung ins Ausland

Auslöser des öffentlichen Widerstandes waren Pläne, nächstes Jahr eine Volksabstimmung über die heikle Abtreibungsfrage abzuhalten. Ein katholisch kontrolliertes Frauenspital würde sich gegen eine demokratisch beschlossene Liberalisierung wehren.

Nun soll der zweideutige Verfassungsparagraf von 1983, der das Leben des Ungeborenen für gleichwertig mit dem Leben der Mutter erklärt, aus dem Grundgesetz entfernt werden.

Die Chancen stehen gut, da namentlich die jüngere Generation mehr Ehrlichkeit fordert: Irische Abtreibungen finden derzeit einfach in Grossbritannien statt.

Emanzipation aus Ernüchterung und Ekel

Die irische Bereitschaft, bisher umstrittene oder tabuisierte Fragen neu zu betrachten, zeigte sich bereits, als die gleichgeschlechtliche Ehe letztes Jahr von einer klaren Mehrheit anerkannt wurde. Irland wurde damit überraschend zum ersten Staat, der diesen Schritt an der Urne ergriff.

Die katholische Kirche spielt bei diesen Diskussionen weitgehend die Rolle einer Zuschauerin. Ihre Ansichten zu Ethik, Moral und Sexualität sind den meisten Iren und Irinnen inzwischen gleichgültig geworden.

Eine irische Flagge vor einer Steinmauer.
Legende: Es wurde weggesperrt, wer anders war. Nun schaut die katholische Kirche zu, wie sich der Staat emanzipiert. Getty Images

Der Zerfall der einst allmächtigen Autorität setzte Mitte der 1990er-Jahre ein – ausgelöst durch eine Reihe von entlarvten pädophilen Priestern, die von ihren Vorgesetzten verschoben wurden, anstatt strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Missbrauch von industriellem Ausmass

Im folgenden Jahrzehnt erhellten mehrere Untersuchungsberichte und Dokumentarfilme, dass der klerikale Missbrauch weit über Einzelfälle hinausging: Das junge, selbständige Irland war zwischen 1940 und 1970 von einer Verschwörung gelenkt worden. Nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht füllte die katholische Kirche das Machtvakuum bereitwillig aus.

Der Staat delegierte weite Bereiche der Sozialpolitik, aber auch des Gewissens, an die Organe der Kirche. Gemeinsam erzwangen Kirche und Staat absolute Konformität. Kinderheime, Arbeitsheime, Waisenhäuser und psychiatrische Anstalten wurden so zu Gefängnissen für alle, die anders waren.

Lebenslänglich für ledige Mütter

Die Behandlung lediger Mütter stand stellvertretend für dieses System. Sie wurden in Heime verbracht, bis die Kleinkinder ein gewisses Alter erreicht hatten.

Zahlreiche Kinder wurden gewinnbringend in die Vereinigten Staaten exportiert, die andern derart vernachlässigt, dass sie wie die Fliegen starben. Die Mütter endeten oft in den Wäschereien von Klöstern oder Heimen, um – nicht selten lebenslänglich – für ihren «Fehltritt» zu büssen.

Die irische Kirche war besonders autoritär und übermässig klerikal geprägt. Aber der Staat liess diesen Tendenzen freien Lauf und duckte sich devot.

Die Einsicht in dieses düstere System hat die Iren schockiert und zu einer Abkehr von den oftmals verlogenen, sicher aber reaktionären Grundmustern der Vergangenheit beschleunigt.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 14.8.2017, 09.00 Uhr

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