Vater, Mutter, Kind: In der Weihnachtszeit ist das Motiv der heiligen Familie allgegenwärtig. In den unzähligen Krippendarstellungen wachen Joseph und Maria als Eltern über das Neugeborene.
Die Theologin Brigitte Kahl erklärt, dass die Bibel bei genauerem Hinsehen auch ganz andere Familienformen zeigt.
SRF: Frau Kahl, ist die noch immer vorherrschende, traditionelle Familie zurückzuführen auf die heilige Familie der Bibel?
Brigitte Kahl: Was ist für Sie denn die heilige Familie?
So wie es uns die Weihnachtskrippe vormacht: Das Christkind, Maria und Joseph. Sie stehen sinnbildlich für Kind, Mutter und Vater.
Interessant, dass Sie das so beschreiben. Denn Joseph ist ja gar nicht der Vater von Jesus. Hätte Joseph entsprechend den damaligen Normen gehandelt, hätte er Maria steinigen lassen – weil sie eben nicht von ihm schwanger war.
Joseph aber nahm das Kind und Maria an. Er wurde zum sozialen Vater. Streng genommen gibt es die heilige Familie also gar nicht.
Das ist ein grosser Paukenschlag in der biblischen Geschichte und die unheiligste Version der heiligen Familie.
Woher kommt denn dieses Bild, das unserer Kultur so geprägt hat? Unzählige Filme, Bücher oder sogar Werbung zitieren dieses Motiv.
Ja, das stimmt. Die heilige Familie oder aber auch das Bild von Eva als Sünderin sind Motive, die immer wieder auch Normen setzten. Sie sollen den Eindruck vermitteln, wie etwas zu sein oder nicht zu sein hat.
So können diese Bilder zitiert werden, um Menschen als «nicht normal» zurückzustufen und damit letztlich Macht auszuüben.
Aber oft steht in der Bibel etwas anderes als angenommen. Darum ist es für mich wichtig, dass wir heute wieder mehr in der Bibel lesen. Sie ist ein zu wichtiges Buch, um sie in diesen falschen Interpretationen hängen zu lassen.
Solche Normen wie das der heiligen Familie rechtfertigt sie nicht. Im Gegenteil: Die Bibel zeigt uns ganz viele unkonventionelle Familienmodelle.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Geschichte von Tamar zum Beispiel, in Genesis 38: Tamar wird mit einem Mann verheiratet. Der stirbt aber, bevor sie zusammen Kinder haben. Das war damals fatal: Kinder garantierten die Altersvorsorge.
Entsprechend dem damaligen Gesetzt wird Tamar dann mit dem Bruder ihres verstorbenen Ehemanns verheiratet. Doch auch der zeugt mit ihr keine Kinder. Onan, so heisst der zweite Ehemann, will seinen Pflichten nicht nachkommen: Er lässt seinen Samen auf den Boden fallen und lässt ihn verderben. Von da kommt übrigens auch das Wort Onanie.
Was also macht Tamar?
Onan stirbt und Tamar wäre zur Witwe verdammt. Doch sie widersetzt sich ihrem Schicksal: Sie verkleidet sich als Prostituierte, verführt ihren Schwiegervater Juda und wird schwanger von ihm.
Er ahnt nichts, als später die Leute zu ihm kommen und erzählen, dass seine Schwiegertochter zur Hure und schwanger geworden ist. Juda fühlt sich moralisch überlegen und verurteilt Tamar und das Kind zum Tode. Tamar soll verbrannt werden.
Doch dann klärt Tamar die Situation auf und gibt Juda ein Erkennungszeichen: ein Sigel, eine Schnur und einen Stab, den Juda ihr damals als Prostituierte gegeben hat. Da versteht er, dass er Unrecht getan hat. Juda hält inne und sagt: Sie hat mehr Recht als ich.
Das ist ein grosser Paukenschlag in der biblischen Geschichte und die unheiligste Version der heiligen Familie.
Das Gespräch führte Léa Burger.