Joschka Fischer zählt zu den bekannten europäischen Politikern der letzten Jahre. Aus der Politik hat er sich zurückgezogen. Gehört werden will er trotzdem. Und so meldet er sich als Publizist zu Wort und schreibt Bücher.
Darin artikuliert er sich als überzeugter Europäer – auch in seinem neusten Buch «Der Abstieg des Westens».
Der Titel ist Programm. Europa sei derzeit in einer der tiefsten Krisen seiner Geschichte. 2016 sei man nur knapp am Totalschaden vorbeigeschrammt.
«Mit dem Brexit und der Wahl Trumps rückte plötzlich ein Albtraumszenario vom parallelen Scheitern der EU insgesamt und dem Untergang des Westens in den Bereich der akuten Möglichkeiten.»
Joschka Fischer argumentiert historisch. Und das tut er mit Geschick und Verve. Die heutige westliche Ordnung seit dem Zweiten Weltkrieg, liest man da, sei Grossbritannien und den USA zu verdanken. Sie hätten sich damals als erste über eine Neuerfindung des Westens verständigt.
Dieser sollte sich an den Prinzipien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freihandel orientieren. In der Folge schloss sich Westeuropa mehr und mehr zusammen. Die USA gaben die nötigen Sicherheitsgarantieren. EU und Nato entstanden.
Die Vordenker verlassen das Schiff
Joschka Fischers Buch betont die seltsame Ironie der Geschichte, dass es heute ausgerechnet die USA und Grossbritannien sind, also die Gründer der modernen westlichen Ordnung, die nun ausscheren.
Mit dem Brexit habe sich Grossbritannien für eine Rückkehr zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts entschieden. Mit Trump wiederum sei in den USA zum ersten Mal ein Präsident an der Macht, der die Nato und damit das historische sicherheitspolitische Rückgrat in Frage stelle.
Zusätzlich verschärft werde die Situation dadurch, dass praktisch überall in Europa EU-kritische, nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch seien: «Von dem Ausgang der Schlacht zwischen Nationalisten und Internationalisten wird das Schicksal des Westens im 21. Jahrhundert abhängen.»
Keine Alternative zu Europa
Laut Fischer gibt es für Europa gar keine Alternative, als die Einigung weiter voranzutreiben. Die einzelnen Mitglieder müssten ihre Partikularinteressen endlich überwinden und etwa zu einer eigenständigen europäischen Sicherheitspolitik finden.
Dies umso mehr, als sich die militärisch-wirtschaftliche Macht mehr und mehr nach China verlagere. Würde also Europa wieder in Nationalstaaten zerfallen, versänken diese in der Bedeutungslosigkeit.
Der Abstieg des Westens wäre ebenso total wie fatal. «Daher heisst die tatsächliche Alternative für die Europäer nicht: EU oder Nationalstaat. Sondern: endgültiger Abschied der Europäer von der Weltbühne und dauerhafte Fremdbestimmung in einer mehr als ungewissen Zukunft oder Mut zu einer neuen Ordnung für den Kontinent.»
Keine Antworten auf drängende Fragen
Auch wenn man Joschka Fischer in seiner Analyse soweit folgen mag, spätestens jetzt stellt sich die Frage, wie denn die vertiefte europäische Einigung, der er das Wort redet, zu bewerkstelligen wäre.
Wie ist es zu schaffen, die Millionen von Menschen, die quer durch Europa nationalistische und rechtspopulistische Parteien wählen, davon zu überzeugen, dass die Zukunft in der vertieften europäischen Einigung besteht – und eben nicht im Nationalstaat mit dichten Grenzen?
Lohnenswerte Lektüre
Die Ängste vieler westlicher Menschen sind immens – vor materiellem Verlust oder vor der Zuwanderung, vor dem Zerfall des Sozialstaats. Was hat Europa dem entgegenzusetzen? Joschka Fischer bleibt seinen Leserinnen und Lesern eine Antwort schuldig.
Dennoch ist die Lektüre dieses Buchs lohnenswert: Es bringt aktuelle Entwicklungen geschickt in Verbindung, stellt sie ins historische Umfeld und bietet schliesslich wertvolle Denkanstösse zur Frage, wohin die europäische Reise gehen soll.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 29.03.2018, 17:20 Uhr