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Kamala Harris «Sie hat den Weg des dringend Notwendigen beschritten»

Vizepräsidentin Kamala Harris ist seit 100 Tagen im Amt. Sie zeigt sich gerne als liberale Politikerin, auch in ihrer Autobiografie. Ist das so?


Kamala Harris' Autobiografie «Der Wahrheit verpflichtet – Meine Geschichte» sei ein typisches Kampagnenbuch, sagt Claudia Franziska Brühwiler, Privatdozentin für Amerikanistik an der Universität St. Gallen. Es diene dazu, eine Brücke zu den Wählerinnen und Wählern zu schlagen.

Harris hat das Buch 2019 geschrieben – war damals also noch weit entfernt von ihrem Amt als US-amerikanische Vizepräsidentin. Trotzdem lässt es einige Beobachtungen zu in Bezug auf ihre Denkweise.

Zu weit weg von der Basis?

Kamala Harris stammt aus einer gebildeten Familie des Mittelstands. Sie ist die Tochter einer allein erziehenden Mutter, die ihr den Wert jeder Arbeit früh beibrachte. Wenn sie als Forscherin im Chemielabor einen Durchbruch hatte, brachte sie dem Kindermädchen Blumen nach Hause: «Ohne dich hätte ich das nicht geschafft», sagte sie dann.

Trotzdem kritisiere das progressive Lager an Harris, dass ihr die Nähe zu den weniger privilegierten Menschen fehle, sagt Claudia Franziska Brühwiler. Aber Harris mache sich immer ein Bild vor Ort, sei willens, mit allen in Kontakt zu treten. Und suche dann auf pragmatische Weise nach Lösungen.

Unermüdlicher Einsatz für die Bildung

Das wird auch deutlich in ihrem Buch. Harris erzählt von einem Programm, das sie als Bezirksstaatsanwältin von Kalifornien initiiert hat: Ersttäter holen während der Haftstrafe ihren High-School-Abschluss nach. Wenn sie ihn bis zu ihrer Entlassung geschafft haben, löscht die Richterin ihr Vorstrafenregister.

Ein weiteres Beispiel: 2013 geriet Harris ins Kreuzfeuer, als sie Eltern schulschwänzender Kinder strafrechtliche Folgen androhte. In ihren Augen war diese Aktion eine Art Verbrechensprävention. Bildung sei matchentscheidend, argumentiert sie in ihrem Buch.

Allerdings erkannte sie, dass diese Kinder häufig auf jüngere Geschwister aufpassen müssen – und deshalb nicht zur Schule gehen. Sie setzte sich für Betreuungsmöglichkeiten ein. 

Macherin statt grundlegende Reformerin

Kamala Harris experimentiert also mit neuen Lösungsansätzen. In ihrem Buch liest man auch, dass sie in Kalifornien das sogenannte «Anti-Bias-Training» ins Leben gerufen hat, eine Sensibilisierung der Polizei für Rassenungleichheiten.

«Sie vermittelt den Eindruck einer Frau, die weiss, dass man ein System nicht völlig umkrempeln, aber dass man Anpassungen vornehmen kann. Sie hat den Weg des dringend Notwendigen und Machbaren beschritten», beobachtet Claudia Franziska Brühwiler.

Früher fuhr Kamala Harris gerade in der Strafverfolgung eine harte Linie. Im Zentrum stand der Gedanke der Vergeltung. Mittlerweile setzt sie auch auf Resozialisierung und Prävention. Sie hat erkannt, dass es Engagement für beide Seiten braucht, für Opfer und Verbrecher.

Bleibt die Frage, wie viele ihrer Lösungsansätze sie als Vizepräsidentin umsetzen kann. «Sie hat Glück,» sagt Claudia Franziska Brühwiler. «Joe Biden sieht Kamala Harris als sein ‹Sounding Board› – und das ist eine grossartige Möglichkeit, andere Wege einzuschlagen.»

Buchhinweis

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Kamala Harris: «Der Wahrheit verpflichtet. Meine Geschichte». Siedler, 2021.

SRF 4 News, Heute Morgen, 29.04.2021, 6 Uhr.

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