«Irgendwann musste ich einsehen, dass alles nichts half und ich offenbar weiterhin Männer liebe. Zudem wurde mir klar: Die Bibel verbietet Homosexualität nicht. Für meine Freikirche war das ein grosses Problem, also verbot man mir die Mitarbeit.»
Das erzählt Renato Pfeffer, 35, der in der Freien Evangelischen Gemeinde aufwuchs und dort merkte, dass er homosexuelle Gefühle hat. Das verunsicherte ihn.
Mit 17 Jahren wandte er sich damit an seine Freikirche, die ihn mit dem Buch «Homosexualität muss kein Schicksal sein» von Joseph Nicolosi betraut machte. Nicolosi versteht Homosexualität, kurz gesagt, als eine psychologische Strategie, fehlende Selbstliebe durch Sex mit Männern zu kompensieren.
Der vorbildliche Christ
«Joseph Nicolosi war der Überzeugung, dass homosexuelle Männer in der Kindheit von der Mutter überbehütet und vom Vater vernachlässigt worden sind. Darum fehle ihnen die männliche Geschlechtsidentität», erklärt der Religionswissenschaftler Adriano Montefusco. Er beschäftigt sich seit zehn Jahren mit Freikirchen und Homosexualität.
Entsprechend begann Renato Pfeffer über zehn Jahre hinweg, seine Kindheit aufzuarbeiten, Familienkonstellationen zu analysieren, Frauenfreundschaften aufzubauen, sich mit Männern zu raufen und Fussball zu spielen, um so körperliche Nähe ohne sexuelle Gefühle zu erfahren. Auch Händeauflegen oder Freibeten waren bei Pfeffer Teil des Prozesses, doch waren sie nicht der Kern davon.
«Solange ich die ‹Umpolungstherapie› machte, akzeptierte und unterstützte man mich in meiner Gemeinschaft. Ich galt als vorbildlicher Christ und war sehr stolz auf mich», erzählt Pfeffer rückblickend.
«Ein, zwei Mal habe ich mir eingeredet, mich in ein Mädchen verliebt zu haben. Aber das war nur Wunschdenken», erinnert sich Pfeffer. «So begann ich erst mit 27 Jahren, meine Sexualität zu akzeptieren. Heute muss ich sagen, dass ich zehn Jahre meines Lebens vergeudet habe.
Ein autonomer Wunsch?
Homosexuelle Gefühle führen nicht selten zu einer Zerreissprobe. In Gesprächen mit verschiedenen gläubigen jungen Männern zeigte sich, wie steinig und folgenschwer dieser Weg ist. Oft folgt eine jahrelange «Seelsorge», in der Hoffnung, die eigene Homo- in Richtung Heterosexualität zu rücken.
Die Männer, mit denen hier gesprochen wurde, haben sich alle aus eigenen Stücken einer solchen «Seelsorge» zugewandt: Sie wünschten sich ein «normales», ein heterosexuelles Leben.
Vorstellung einer fluiden sexuellen Orientierung
Was aber bedeutet ein «eigener Wunsch» in einer Umgebung, in der Geschlechterrollen klar zugeteilt sind? Woher dieser scheinbar autonome Therapiewunsch komme, werde in freikirchlichen Kreisen kaum reflektiert, meint Montefusco. «Wenn man die Botschaft vermittelt bekommt, das ‹unmögliche Andere› zu sein – wie soll man sich da nicht ändern wollen?»
Änderungen, die bekannt sind als «Konversionstherapien», «Reorientierungstherapien» oder manchmal auch als «Seminare zur sexuellen Selbstbestimmtheit». Dahinter steckt die Vorstellung, dass die sexuelle Orientierung fluide und Homosexualität deshalb veränderbar sei.
«Die meisten solcher Therapien werden von Laien, selten jedoch von Ärzten oder Psychotherapeuten durchgeführt», weiss Montefusco aus seiner Forschung.
Früher Krankheit, heute veränderbar
Noch bis 1992 erfasste der Krankheiten-Katalog der WHO Homosexualität als Krankheit. Vor allem in den USA wurde sie bis 1960 mithilfe einer Elektroschocktherapie behandelt. Von dieser Therapie und Sichtweise hat sich die Medizin längst abgewandt.
Doch ist die Sichtweise auf Homosexualität nicht nur von medizinischen, sondern auch von religiösen Akteuren geprägt. «Seit den 1990er-Jahren dreht sich die Debatte innerhalb freikirchlicher Kreise grundlegend um die Frage, ob Homosexualität als angeboren oder erlerntes Verhalten betrachtet werden muss», erklärt Montefusco.
Für die sogenannte «Ex-Gay Bewegung», die in den 1970er-Jahren in den USA entstand und eine christlich-theologische Prägung hat, ist der Fall klar: Homosexualität ist nicht angeboren. Ansonsten wäre Gott in der Schöpfung ja ein Fehler unterlaufen, so der Religionswissenschaftler. Eine Überzeugung, die weiterhin in einigen Freikirchen zu finden ist.
Worttreues Bibelverständnis
Gemäss den Statistiken des Bundes sind je nach Definition zwischen drei und sechs Prozent der Bevölkerung einer Freikirche zuzurechnen.
Montefusco hat sich intensiv damit beschäftigt, wie diese mit gleichgeschlechtlicher Liebe umgehen: «Freikirchen haben ein sehr worttreues Bibelverständnis. Sie legen den Text nicht sinngemäss, sondern möglichst buchstabengenau aus. Und in diesem Text gibt es verschiedene Stellen, an denen die Bibel homoerotische Sexualakte verbietet.»
«Sexualität ist bis zu einem gewissen Grad prägbar»
Christian Haslebacher, der Vorsitzende von Chrischona Schweiz – eine der grössten Freikirchen hierzulande – erklärt, dass der Mensch seiner Ansicht nach «grundsätzlich die Freiheit hat, selbst zu entscheiden, welche Aspekte seines sexuellen Spektrums er ausleben will».
Die sexuelle Gesinnung kann also durch einen Willensakt bestimmt werden? «Ich gehe davon aus, dass Sexualität – durch langfristige Prozesse – bis zu einem gewissen Grad prägbar ist und man nicht als starr festgelegte, reine Hetero- oder Homo-Person auf die Welt kommt», so Haslebacher.
Auch Marc Jost, Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz erklärt, dass Sexualität für sie «aus biblisch theologischer Sicht im Rahmen der Ehe von Mann und Frau ausgelebt werden soll und andere Formen abzulehnen beziehungsweise nicht zu fördern sind». Auch kenne er Leute, die eine Veränderung ihrer sexuellen Orientierung erlebt haben.
Jost betont jedoch, dass es für ihn als Christ wichtig sei, niemanden zu verurteilen, auch nicht wegen seiner sexuellen Lebensform. Aber was heisst das konkret? Jost fühlt sich bei diesem Thema schnell in die Ecke gedrängt, will nicht die Rolle des «konservativen Freikirchlers einnehmen» und betont, wie wichtig der Dialog mit Andersdenkenden sei.
Ablehnung nach dem Outing
Das ist Stand heute. Marcel Schmidt, der sich vor 15 Jahren in einer Chrischona Gemeinde outete, machte damals andere Erfahrungen. Von den Leuten innerhalb der Gemeinde erfuhr er nach seinem Outing Ablehnung.
Trotzdem ging Schmidt in die Seelsorge der Jugendgruppe, sprach dort über seine Gefühle und betete mit anderen dafür, dass seine Neigung verschwinden würde. Auch wurden ihm Hände aufgelegt. «Ich merkte, dass es nichts nützt. Und doch behielt ich dieses Stück Hoffnung, dass ich eines Morgens aufwachen und meine Fantasien für Frauen spielen würden.»
Wütend auf Gott
Später machte man Schmidt Vorwürfe, dass sein Glaube offenbar zu schwach sei, um von der Neigung wegzukommen. «Man bot mir zwei Lösungen: Entweder meine sexuelle Orientierung ändert sich doch noch – oder ich lebe enthaltsam. Ich fand es furchtbar, dass mir meine Kirche eine Beziehung vergönnte. Freut sich Gott denn etwa nicht daran, wenn Liebe entsteht und wächst?»
Schmidt kapitulierte. Er trat aus der Gemeinde aus, obwohl er dort sein gesamtes soziales Umfeld hatte. Er schloss, wie so viele in seiner Situation, mit Gott ab.
Heute sagt er: «Ich war so wütend auf Gott, dass er mich mit diesem Problem im Stich liess. Heute bin ich 180 Grad um Gott herumgegangen und sehe ihn von einer anderen Seite. Ich habe meine Berufung gefunden in der homosexuellen Christenbewegung und bin davon überzeugt, dass Gott daran Freude hat.»
«Vieles geschieht im Verborgenen»
Wie viele solche Behandlungen jährlich in der Schweiz durchgeführt werden, ist unklar. Zahlen sind laut Adriano Montefusco schwierig zu erheben, weil vieles im Verborgenen geschehe. «Aber überall, wo ich für meine Forschungen reingestochen habe, merkte ich, dass die Sache grösser ist als gedacht», erzählt Montefusco.
Auch wenn bei den betroffenen Gesprächspartnern diese Form der Therapie nicht fruchtete, gibt es einige Personen, die sich als ‹geändert› verstehen und sich mit ihrer Erfolgsgeschichte mitsamt Ehefrau und Kindern exponieren. In der Schweiz ist etwa Rolf Rietmann von der Organisation Wüstenstrom ein bekanntes Beispiel dafür. Sein eigenes Leben gilt ihm als Zeugnis für die Veränderbarkeit sexueller Orientierung.
Deshalb bietet Rietmann bei Wüstenstrom auch Therapien an – er möchte sie nicht «Konversionstherapien» nennen – wo Menschen, die sich eine Veränderung ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung wünschen, Unterstützung erhalten.
Zwei Gefühle, die gegeneinander kämpfen
So war es auch bei Marcel Koch (Name geändert), der als Jugendlicher aus religiösen Gründen in Konflikt mit seiner homosexuellen Neigung kam. Lange Zeit trug er dies mit sich selbst aus. «In mir gab es zwei Gefühle, die gegeneinander kämpften: Die Liebe zu meiner Frau und meine homosexuellen Neigungen», erzählt er.
Mit 30 Jahren merkte Koch, dass er diesen Kampf nicht alleine führen kann und Unterstützung braucht. Diese fand er bei Rolf Rietmann.
«Ich kam zur Erkenntnis, dass mein Problem in einer Identitätsfrage grundiert ist. Dass ich neu definieren muss, wer ich bin und was ich will.» Ein fünfjähriger Prozess sei dies gewesen, und bis heute nicht komplett abgeschlossen. «Aber die professionelle Unterstützung und meine Umgebung haben mir sehr viel Ruhe in meine Unsicherheiten gebracht. Sodass ich heute glücklicher Ehemann und Familienvater bin.»
Entblösste Gedanken und Ängste
Als Pastor einer Schweizer Freikirche fällt auch Thomas Müller (Name geändert) der Schritt zum Outing schwer. Bis heute hat er ihn innerhalb der Gemeinde nicht gewagt. Denn was ihm folgt, weiss er ziemlich genau: Ämter mit Vorbildfunktion können in der Gemeinde nicht mehr ausgeführt werden, seine geliebte Position als Pastor wäre wohl Geschichte. Aber auch soziale Ächtung ist ein Thema, sofern er nicht enthaltsam leben möchte.
Auch Müller hat Jahre von Therapien hinter sich. Mit Anfang 30 reiste er dafür in die USA und nach Osteuropa. «Man wächst auf und beginnt zu merken, dass bei einem selbst etwas anders ist. Aber ich wollte normal sein», erzählt er.
Psychisch seien diese Therapien sehr tief greifend, erzählt Müller rückblickend. Wäre er jünger gewesen, hätte es ihn vermutlich aus der Bahn geworfen. «Manchmal schrie man seine ganze Wut vor einer Gruppe von Menschen raus, entblösste seine Gedanken und Ängste. Oder es wurden BHs und Slips im Raum verteilt, und man sollte artikulieren, was das mit einem macht.»
Erstmals positive Gefühle
In einem dieser Kurse lernt er David (Name geändert) kennen, die beiden verlieben sich. Erst da gesteht sich Müller ein, dass Homosexualität nicht – wie er es so oft gehört hatte – mit Pornografie, Orgien und Promiskuität verbunden sein muss, sondern genauso Liebe sein kann.
«Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich mich verlieben und damit bemerken konnte, wie positiv sich das anfühlt. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, als wir Zeit miteinander verbracht und uns berührt haben, im Gegenteil. Wenn ich im Internet Dinge anschaute, fühlte ich mich danach immer schlecht.»
Der Botschaft Gottes im Weg
Müller gestand sich ein, «dass Gott seine Homosexualität nicht veränderte», auch bei niemandem in seinem Umfeld. «Ich kenne zwar zwei, die nun eine Frau haben. Wenn ich im Gespräch aber nachbohre, dann wirkt es, als machten sie sich selbst etwas vor.»
Trotzdem ist es Müller ein Anliegen, dass die evangelikalen Gemeinden nicht in eine Ecke gedrückt werden: «Sie tun auch viel Gutes für die Gesellschaft. Doch stehen sie der Botschaft von Gott im Weg, wenn sie nicht aufgeklärt auf diese Themen reagieren können.»