Sein Büro an der Amsterdamer University of Applied Sciences ist bis unter die Decke voll mit Büchern. Ein langer schlauchartiger Raum. Hier findet man sämtliche Klassiker der Medientheorie, aber auch Kafka und Edgar Allen Poe. «Wir haben keine Bibliothek mehr», sagt Geert Lovink verschmitzt. «Heute ist alles online, digital.»
Netzforscher der ersten Stunde
Geert Lovink ist ein Internet-Forscher und -Aktivist der ersten Stunde. Seit Anbeginn beobachtet und analysiert er Tendenzen und Entwicklungen der Netzkultur. Er gilt als Begründer der Netzkritik.
Im Zentrum seines neuen Buchs «Im Bann der Plattformen» steht die digitale Welt im Zeitalter nach den Snowden-Enthüllungen. Schon mit seinen ersten Sätzen postuliert er seine Perspektive.
Das Buch «...beschreibt das Zusammenschrumpfen eines Horizonts, vom unbegrenzten Raum, der das Internet einmal war, zu einer Handvoll Social Media Apps. In diesem globalen Niedergang haben die IT-Giganten wie Google und Facebook ihre Unschuld verloren.»
SRF: Herr Lovink, im englischen Original heisst Ihr Buch «Social Media Abyss» – was so viel bedeutet wie «Der Abgrund der sozialen Medien». Warum Abgrund?
Geert Lovink: Der Abgrund – das ist nicht etwas, in das man hineinstürzt. Es ist mehr wie bei Edgar Allen Poe. Es geht um Schaudern, um das Gefühl, von etwas Unheimlichem überfordert zu werden.
Das erfahren derzeit viele Leute. Man wird irgendwo hineingezogen, wo man nicht mehr so schnell herauskommt.
Das Bewusstsein für den Abgrund, von dem Lovink spricht, ist erstaunlicherweise vorhanden: wir wissen seit den Enthüllungen von Edward Snowden, dass wir ausspioniert werden.
Wir wissen, dass wir überwacht werden, dass Internet-Giganten unsere Daten benutzen – und dennoch scheint es uns nicht wirklich zu berühren. Wir sind «hin und hergerissen zwischen Angst, Abhängigkeit und Obsession», schreibt Geert Lovink.
Sie schreiben, dass im Umgang mit dem Internet eine kulturelle Verschiebung stattgefunden hat, «weg vom aktiven, bewussten Nutzer hin zum Subjekt als fügsamem und ahnungslosen Diener.»
Geert Lovink: Die These des Buches besagt, dass wir in einer neuen Normalität angelangt sind. In einem Alltag, der so sehr von sozialen Medien, Handys, von ständigem Online-Sein bestimmt ist, dass wir nicht mehr davon loskommen.
Das wollte ich thematisieren. Diese Mischung zwischen Normalität und Schauder, dieses unheimliche Gefühl, das man eigentlich gar nicht mehr bewusst wahrnimmt.
Das Soziale war vor Social Media viel sozialer.
Lovink unterscheidet zwischen dem Zeitalter der Netzwerke, die in den 1990er-Jahren dezentral und auf vielfältige Weise existierten und heute, dem Zeitalter der Plattformen, die Grenzen setzen, zentriert sind wie eine Familie oder isoliert wie eine Insel. Und ausserdem ihre kommerziellen Interessen durchsetzen.
Das Internet hat immer schon versprochen, den Austausch zu fördern. Was ist aus diesem Versprechen geworden?
Geert Lovink: Diese Idee, dass das Internet etwas mit sozialen Verhältnissen und Austausch zu tun hat, geht zurück zu den Anfängen in den 1980er-Jahren. Damals wurde der Begriff der virtuellen Gemeinschaft entwickelt.
Es gab schon damals Foren und sehr viele soziale Dynamik zwischen Leuten online. Dieses Soziale war zielorientiert. Man kam zusammen, wollte was erreichen, diskutieren, sich austauschen.
Wann hat sich diese Idee verändert?
Geert Lovink: Um 2000 platzte die Dotcom-Blase, und ein Vakuum entstand. In dieses Vakuum sind die sozialen Medien gestossen. Der Unterschied zu den Netzwerken besteht darin, dass sich soziale Medien auf Profile konzentrieren.
Wir müssen heute Profile ausfüllen, dieses Element hat es vorher nicht gegeben. Die sozialen Medien erforschen das Individuum, sein Verhalten, seine Daten. Das Soziale war davor viel sozialer.
Jetzt geht es eigentlich nur darum, wie wir als neoliberale Individuen uns durchkämpfen, profilieren und irgendwie versuchen, in dieser Datenflut zurechtzukommen. Es geht nicht mehr darum, was wir gemeinsam erreichen wollen.
Trotz aller Kritik: Lovink ist kein elitärer Kulturpessimist. Obwohl er unsere Gegenwart als neues «digitales Mittelalter» bezeichnet, in dem die Ideen der Aufklärung, der Informationsvermittlung verloren gingen.
Vielmehr fordert er dazu auf, den Computer wieder als ein «Instrument der menschlichen Befreiung» zu sehen. Er schlägt vor, das Internet zu reparieren. Dessen Schnelligkeit sieht Lovink dabei als Chance: So schnell die Plattformen entstanden sind, so schnell können sie wieder verschwinden.
Wenn User attraktivere Möglichkeiten entdecken etwa. Die Chancen liegen in kleineren, lokalen Netzwerken, im Kampf gegen die Zentralisierung. In der einfachen Frage: Was soll das? Was nutzt es mir?
Sendung: SRF 1 Kultur, Kulturplatz, 2.11.2017, 22.25 Uhr